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Posted on December 28, 2022 at 7:15 AM |
Partnerschaftliches Focusing, das in beide Richtungen geht, bei dem jeder sowohl fokussiert als auch begleitet, und professionelle Focusing-Begleitung, die nur in eine Richtung geht, unterscheiden sich grundsätzlich voneinander. Das erste Setting könnte man "symmetrisch" nennen, beide machen dasselbe, das zweite "komplementär", beide machen unterschiedliche Dinge und ergänzen sich dadurch.
Für viele Menschen hat es einen sehr großen Wert, wenn sich ein anderer Mensch ihnen ganz zuwendet und für sie da ist, ohne vorher oder nachher eigene Themen einzubringen und ohne dass sie für ihn dasein müssen. Für diese Menschen ist das eine ausgleichende Erfahrung, weil sie das nicht in einem ausreichenden Maße in ihrem Leben gehabt haben. Wir brauchen es einfach, uns phasenweise bei einem anderen anlehnen zu können und Schutz zu suchen, ohne dass der sich auch bei uns anlehnt und Schutz sucht. Um uns gut zu entwickeln, brauchen wir komplementäre Beziehungen und hier geht professionelle Focusing-Begleitung tatsächlich in Richtung Psychotherapie.
Natürlich brauchen wir auch symmetrische Beziehungen, wie etwa Focusing-Partnerschaften, in denen es kein Machtgefälle gibt, weil beide sich abwechseln. Keiner ist der Nehmende und keiner der Gebende, weil jeder sowohl gibt als auch nimmt. Dadurch steigert sich das Gefühl von Selbstwirksamkeit und Autonomie.
Beide Settings haben also ihre Vorteile und es ist gut, dass es beide gibt.
Posted on March 6, 2022 at 4:20 PM |
Sigmund Freud endet seine Schrift Das Unbehagen in der Kultur aus dem Jahre 1930 mit folgenden Worten:
„Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung.“
Die tiefe Wahrheit, die aus diesen Worten spricht, spüren wir alle in diesen Tagen ganz besonders deutlich: Soeben haben wir gelernt, mit dem Coronavirus zu leben, und plötzlich ist die Rede von einem großen Krieg, gar von einem Weltkrieg, bei dem möglicherweise Atomwaffen eingesetzt werden. Das macht Angst! Eine schleichende Furcht kriecht uns in die Glieder, lähmt uns und überschattet alles. Wie sollen wir das eigentlich noch aushalten?
In jeder Angst steckt ein Nicht-Wollen: „Ich habe Angst“ lässt sich übersetzen mit „Ich will nicht“, ohne dass die innere Wahrheit verzerrt wird. „Ich habe Angst, dass bei uns Krieg ausbricht“ heißt „Ich will nicht, dass bei uns Krieg ausbricht“. Allein diese Umformulierung führt manchmal schon zu ein wenig Erleichterung.
Ihr eigentlicher Zweck ist jedoch, dass es durch sie leichter wird, das Nicht-Gewollte in seiner Tiefe zu erforschen. Was daran will ich nicht, FALLS bei uns Krieg ausbricht? Ich will nicht, dass sich mein Leben verändert, dass vielleicht mein Haus zerschossen wird und meinen Kindern die Zukunft geraubt wird. Was daran will ich nicht, FALLS das eintritt? Ein Gefühl von Schmerz, Verlust, Verzweiflung. Was daran will ich nicht, FALLS ich diese Gefühle erlebe? Das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Dass all das passiert, ohne dass ich etwas dagegen machen kann.
Geht man seiner Angst, oder besser gesagt, seinem Nicht-Wollen auf diese Art und Weise auf den Grund, wird es sehr konkret, sehr spezifisch und fühlt sich überraschenderweise besser an. Die Erkundung und Benennung unserer tiefsten Ängste nimmt ihnen ein Stück ihrer Energie und damit ihrer Intensität.
Der Prozess ist damit aber noch nicht beendet. In jedem Nicht-Wollen steckt auch ein Wollen. Schmerz, Verlust, Verzweiflung und Ohnmacht will ich nicht. Was ist es denn, das ich will? Dass ich die Kontrolle über mein Schicksal behalte, dass ich etwas machen kann, was hilft, und dass ich mich nicht ausgeliefert fühle. Was könnte ich denn tun, was würde sich richtig anfühlen? Dass ich mit den Menschen, mit denen ich arbeite und lebe, so interagiere, dass sie lernen, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Ich möchte in meinem Bereich einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass Menschen ihr Erleben wahrnehmen und es durch einen Prozess führen und es nicht ungefiltert einfach ausagieren. Das fühlt sich richtig und gut an!
Wenn wir unsere Angst in ein Nicht-Wollen verwandeln, dann seine tiefsten Wurzeln erspüren und anschließend nachspüren, welches Wollen darin steckt, in welche Richtung es strebt und zu welchen Handlungen es uns treibt, ändert sich die Energie in unserem Körper. Die lähmende Angst weicht – zumindest ein Stück weit – einer Tatkraft und Entschlossenheit. Und das fühlt sich ganz anders an!
Viele Menschen vollziehen diesen Prozess intuitiv. So erklärt sich die riesige Hilfsbereitschaft, die zurzeit überall zu beobachten ist und dazu führt, dass einige spontan ins Auto steigen, um Flüchtlinge an der Grenze abzuholen.
Ein gewisses Maß an Angst bleibt allerdings immer. Sie steckt in unseren Genen und hält uns wachsam. Was auch bleibt, ist ein Gefühl absoluter Unerträglichkeit angesichts dessen, was gerade geschieht.
Führen wir unsere „Angststimmung“ jedoch durch den oben beschriebenen Prozess, lähmt sie uns nicht mehr ganz so sehr und wir sind ihr nicht mehr völlig ausgeliefert. So werden wir handlungsfähiger und können angemessener auf das reagieren, was in dieser Welt nicht stimmt.
Posted on January 16, 2022 at 9:05 AM |
Das Jahr 2021 hat mich in einem Maße mit dem Thema Tod und Trauer konfrontiert wie kein anderes je zuvor. Im Juni starb der Mann einer guten Freundin an Herzversagen, im Juli verstarb meine Mutter und im Oktober erlag der Mann einer weiteren sehr guten Freundin einem Herzinfarkt. Mit den drei Menschen, die ihre Partnerin bzw. ihren Partner verloren haben, mit meinem Vater und meinen beiden guten Freudinnen, habe ich lange Gespräche über Tod, Trauer und Verlust geführt.
Kurz vor Weihnachten kam dann ein achtzehnjähriger Nachbar und ehemaliger Mitschüler unseres Sohnes auf tragische Art und Weise ums Leben. Er wurde von einem Zug überfahren. Es war ein Unfall. Unser Sohn und meine Frau waren auf der Beerdigung.
Solche Tragödien katapultieren uns direkt in eine religiöse bzw. spirituelle Dimension und lassen Fragen aufkommen, wie etwa: "Warum musste das geschehen?" oder "Wohin gehen wir nach dem Tode?" Sie berühren das große Mysterium und können nicht wissenschaftlich beantwortet werden. Und doch kann es hilfreich und wichtig sein, seine ganz persönlichen Antworten zu finden. Die verschiedenen Religionen und spirituellen Wege leisten dabei eine ganz entscheidende Hilfestellung. Ich selbst beantworte die Frage, was nach dem Tode geschieht, damit, dass wir - ganz wörtlich genommen - zu Mutter Erde zurückkehren. Für mich persönlich reicht diese Antwort.
Welche Rolle kann nun Focusing bei der Bewältigung von Tod und Trauer spielen? Mit Focusing wenden wir uns dem in uns zu, was noch nicht den Prozess durchgemacht hat, den es benötigt, was also steckengeblieben oder eingefroren ist. Was sich bereits im Prozess befindet, braucht ein bewusstes Wahrnehmen und unsere Präsenz, aber keine Verarbeitungsschritte.
Ein Beispiel: Zwei Personen verlieren einen geliebten Menschen. Beide bezeichnen das, was sie erleben, als "Trauer". Die eine spürt jedoch Verbitterung, ein Sich-Auflehnen, ein Nicht-Akzeptieren dessen, was geschehen ist, und hadert mit ihrem Schicksal. Die andere spürt eine warme, fließende Trauer, ein Annehmen, Tränen kommen und versiegen wieder, es ist so, wie es ist.
Der zweite Fall spiegelt das wider, was ich beim Tode meiner Mutter erlebt habe. Meine Mutter litt schwer an Alzheimer, erkannte niemanden mehr, war gefangen in ihrem Körper, geplagt von Ängsten. Ihr letztes Lebensjahr verbrachte sie in einem Pflegeheim. Am Tag ihres Todes, den 27.07.2021, trank sie nachmittags eine Tasse Kaffee, aß ein paar Kekse, ging auf dem Flur spazieren, setzte sich dann auf ihr Lieblingssofa und starb. Draußen schien die Sonne. Sie wurde 78 Jahre alt.
Den Tod meiner Mutter habe ich als Befreiung erlebt. Natürlich war und ist da auch Trauer, aber nicht das Gefühl, dass etwas passiert ist, was nicht hätte geschehen dürfen. Alles ist im Fluss und bis heute habe ich nicht ein einziges Mal darauf fokussiert. Es war einfach nicht nötig.
Die Todesumstände meiner Mutter haben mir den Verarbeitungsprozess sehr leicht gemacht. Wenn jemand jedoch ganz plötzlich und viel zu früh mitten aus dem Leben gerissen wir, wie die beiden Männer meiner Freundinnen - beide starben mit Anfang fünfzig - oder der Mitschüler meines Sohnes, sieht das völlig anders aus. In solchen Fällen ist es sehr verständlich, wenn der Verarbeitungsprozess nicht von alleine abläuft oder nur sehr langsam oder nur teilweise und in bestimmten Bereichen.
Wenn wir darauf fokussieren wollen, spüren wir nach, wie sich all das, was mit dem Tod der geliebten Person zu tun hat, im Körper anfühlt. Wir lassen Worte, wie "Trauer" oder "Schmerz", fallen und spüren ganz konkret nach, was wir dort im Innern erleben, beschreiben es und treten dazu in Beziehung.
Wer Focusing nicht kennt, wird sich fragen, was das bringen soll. Fokussierende wissen aber, wie wichtig es ist, unsere körperliche Resonanz auf Lebenssituationen zu spüren und in die Dimension des Felt Sense einzutauchen. Setzen wir uns auf rein gedanklicher Ebene mit Tod und Trauer auseinander, bleiben wir an der Oberfläche und es bewegt sich nichts. Erst wenn wir unser körperliches Erleben mit einbeziehen, kommt es zu dem Verarbeitungsprozess, den wir uns wünschen.
Wie dieser inhaltlich aussieht, kann nicht vorhergesagt werden. Ganz sicher führt er jedoch zu inneren und äußeren Schritten, die sich richtig anfühlen. Das Leben geht weiter!
Posted on March 20, 2021 at 12:05 PM |
In den letzten zwölf Monaten, seit dem Frühjahr 2020, hat sich die Welt verändert. Eckhart Tolle sagt in einem Video, die Pandemie sei genau das, was die Welt gebraucht habe. Dem stimme ich ausdrücklich NICHT zu. Millionen von Menschen sind gestorben und unzählige Existenzen sind vernichtet worden. Das hat die Welt ganz sicher nicht gebraucht.
Richtig ist aber auch, und das hat Tolle vermutlich gemeint, dass es etwas Gutes im Schlechten gibt. Der bisherige Lebensrhythmus ist nicht mehr möglich und bei vielen Menschen hat das zu einem Innehalten und zu einer Besinnung auf das geführt, was wirklich wichtig ist.
Focusing ist eine der Methoden, die bestens dazu geeignet sind, in sich hineinzuspüren und zu erkunden, wie der ganz persönliche Weg nun weitergehen könnte. Was fühlt sich richtig an und was nicht?
Ich merke das deutlich an der Anzahl der Stunden, die ich 2020 damit verbracht habe, Focusing-Kurse zu geben und Menschen durch Focusing-Prozesse zu führen. Im Vergleich zu 2019 hat sich diese Zahl ungefähr verdoppelt. Ein wesentlicher Faktor dabei war, dass ich einer der wenigen Focusing-Anbieter bin, die schon seit je her Focusing in Online-Formaten anbieten: über Skype, Zoom, Signal oder auch am Telefon.
Tatsächlich funktioniert Focusing sehr gut über diese Plattformen, weil es in erster Linie um die innere Beziehung zum eigenen Erleben geht. Das, was an äußerer Beziehung nötig ist, kann auch online gegeben werden.
So war und ist es möglich, ganz ohne Ansteckungsrisiko Focusing zu lernen und sich selbst zu entdecken. Ich bin gespannt, wie sich das Jahr 2021 entwickelt.
Posted on March 27, 2020 at 2:55 PM |
Heute Morgen ist Fermín, der geliebte Onkel meiner Frau, in einem Krankenhaus in Madrid an einer Lungenentzündung gestorben, nachdem er sich mit dem Coronavirus infiziert hat. Er hat gerne gelacht, getrunken und er hat gerne Raubkopien von Spielfilmen aus dem Internet heruntergeladen.
Meine Frau ist Madrilenin und ihre ganze Familie lebt dort. Die Situation in der spanischen Hauptstadt ist im Augenblick wie in einem Horrorfilm. Meine Schwiegereltern haben sich mehr oder weniger in ihrer Wohnung verbarrikadiert. Lebensmittel bestellen sie im Internet oder meine beiden Schwägerinnen bringen sie vorbei. Das funktioniert noch.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, nicht in diesem Blog über die zurzeit grassierende Pandemie zu schreiben. Es befremdet mich sehr, wie psychologische und spirituelle Lehrer die Krise nutzen, um ihre jeweiligen Lehren unters Volk zu bringen, ohne selbst betroffen zu sein.
Besonders irritiert hat mich ein Video von Eckhart Tolle, in dem er über die Corona-Krise redet und seine Lehre propagiert. Eigentlich stimme ich dem zu, was er sagt, was mir aber fehlt, ist das Mitgefühl für das Leiden der Menschen.
Diejenigen, die jemanden verloren haben, empfinden großen Schmerz. Andere machen sich Sorgen über ihre Gesundheit oder ihre wirtschaftliche Existenz. Da hilft es nicht, sie darüber zu belehren, dass sie sich mit ihrem wahrnehmenden Bewusstsein identifizieren sollen und nicht den wahrgenommenen Empfindungen, weil der Schmerz sonst nicht aushaltbar sei. Was mir bei diesem Ansatz fehlt, ist die Liebe.
Doch wie können wir in diesen Tagen unsere Liebe ausdrücken - unsere Liebe zu uns selbst und unsere Liebe zu denen, die leiden? Unsere Politiker sagen, indem wir körperlichen Abstand halten. Das ist sicher richtig.
Ich würde jedoch gerne ergänzen: Lasst uns im richtigen Abstand dabei sein! Bei unseren eigenen Gefühlen von Angst, Furcht, Verunsicherung oder Trauer! Und auch bei anderen Menschen, die diese Empfindungen gerade erleben. Es ist egal, ob wir selbst betroffen sind, weil unser Gehalt wegbricht, wir selbst infiziert sind oder jemanden kennen, der sich angesteckt hat.
Lasst uns bei all diesen Empfindungen in uns selbst und bei anderen sein, nicht darin, nicht identifiziert damit, sondern in Beziehung dazu. Vielleicht wortlos, vielleicht auch mit Worten, wie "Das ist wirklich schrecklich". So habe ich heute den Tag mit meiner Frau verbracht.
Die Worte "Dabeisein ist alles" bekommen dadurch eine ganz neue Bedeutung. Was unsere Gefühle und die anderer Menschen wirklich brauchen, ist, das wir sie wahrnehmen, anerkennen und in Beziehung zu ihnen treten: "Ja, das fühlt sich wirklich so an. Das ist wirklich so."
Meine spanische Familie hat das verstanden - ohne dass sie sich jemals mit irgendwelchen psychologischen oder spirituellen Lehren beschäftigt hat. Sie ist beieinander, natürlich nicht körperlich, sondern im Herzen und auch über die verfügbaren sozialen Medien.
Posted on February 1, 2020 at 1:20 PM |
Viele Menschen in unserer Gesellschaft glauben, sogenannte "Psychopathologie" oder "psychische Erkrankung" sei etwas, das man hat, wie ein "Ding", wie einen Virus oder eine Infektion. Die Heilung sei dann medizinischer Natur, beispielsweise durch Medikamente.
Im Einzelfall mag das so sein. Es gibt psychische Erkrankungen, die dadurch entstehen, dass die Biochemie des Körpers aus der Balance geraten ist und durch Medikamente wieder ins Lot gebracht werden muss.
In der Mehrzahl der Fälle lassen sich psychische oder emotionale Probleme jedoch darauf zurückführen, dass Interaktionen mit Bezugspersonen in der Vergangenheit nicht so waren, wie sie hätten sein sollen. Etwas durfte nicht gesagt, gefühlt oder gelebt werden.
Tatsächlich führen solche ungünstigen Interaktionen zu etwas, das sich wie ein "Ding" in uns anfühlt. "Das ist mein Zwang, meine Angst, meine Depression."
Wenn man dem dann aber mit Hilfe von Focusing nachspürt, stößt man auf das, was nicht gesagt, gefühlt oder gelebt werden durfte, und das immer noch verzweifelt darauf wartet, sich auszudrücken. Immer wieder nimmt es Anlauf und immer wieder scheitert es. Durch diese Wiederholung (die Psychoanalyse spricht von Wiederholungszwang) entsteht der Anschein, es handele sich um eine innere Entität, z.B. eine "Angststörung".
Aus Focusing-Sicht handelt es sich jedoch eher um "etwas, das Angst hat" und das immer wieder vergeblich versucht, Sicherheit zu finden. Aus dieser Perspektive besteht die Heilung darin, dass die Interaktion endlich, endlich Erfolg hat. Das, was traurig ist, wird getröstet, das, was Angst hat, wird beschützend in den Arm genommen, der stumme Schrei darf sich lösen und wird gehört, die aufgestaute Energie darf gelebt werden.
Darin besteht unsere Aufgabe, wenn wir anderen Menschen helfen wollen. Wir treten so mit ihnen in Beziehung, dass das, was nicht gelebt werden konnte, Raum bekommt, gehört wird und hinaus in die Welt getragen werden kann.
Posted on January 13, 2020 at 6:00 PM |
Wenn wir geboren werden, sind wir vollkommen hilflos und unser sensibles Nervensystem ist von all den Reizen, denen wir ausgesetzt sind, komplett überfordert. Gerade noch befanden wir uns in einem Zustand glückseliger Geborgenheit und Symbiose und plötzlich wird an uns gedrückt, gezogen und gequetscht und dann kommen Lichter und Stimmen.
Sollte es dann noch zu Komplikationen kommen, beispielsweise wenn sich die Nabelschnur um unseren Hals legt oder wir uns in einer falschen Position befinden, die einen Kaiserschnitt nötig macht, und wir dann den Stress unserer Mutter spüren, wird unser Nervensystem in den höchsten Alarmzustand versetzt.
Von Natur aus sind wir so programmiert, dass wir danach den engen Hautkontakt zu unserer Mutter benötigen, um uns wieder zu beruhigen und um unser Nervensystem zu regulieren. Eigentlich müssten wir, so hat es die Natur vorgesehen, auf den Bauch unserer Mutter gelegt werden.
Doch tragischerweise wird dieser Kontakt allzu oft verhindert. Noch bis in die 80er-Jahre hinein wurden Neugeborene direkt nach der Geburt von ihrer Mutter getrennt, damit diese "sich erholen" kann, und auch heute noch kommt es oft zu einer Trennung, wenn direkt nach der Geburt eine medizinische oder operative Behandlung der Mutter oder des Säuglings nötig ist.
Das Neugeborene ist dann völlig allein mit seinem überreizten Nervensystem. Da es sich selbst nicht regulieren kann, bleibt der Alarmzustand bestehen. Das kann sich beispielsweise darin zeigen, dass es motorisch unruhig ist und viel schreit.
Ist die Mutter dann bei der Wiedervereinigung mit ihrem Kind, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage, den benötigten Kontakt zu geben, verfestigt sich der Alarmzustand im Nervensystem und es kommt zu einem Geburtstrauma.
Später im Leben entwickeln solche Menschen mannigfaltige Symptome: Ängste, Zwänge, Depressionen, Probleme mit anderen Menschen in Beziehung zu treten, ADHS usw.
Die Verarbeitung solcher Traumata ist sehr schwierig, da wir keine bewusste Erinnerung an sie haben. Sie geschahen in einer Zeit, in der wir noch nicht sprechen konnten, und können daher in einer herkömmlichen Therapie nicht verbalisiert werden.
Und deswegen ist Focusing besonders geeignet, solche frühen Verletzungen zu heilen, da Focusing mit dem sogenannten Felt Sense arbeitet, mit einem unklaren inneren Gefühl, das wir ganz konkret in unserem Körper spüren können.
Da ist zwar keine Erinnerung an das, was während oder nach unserer Geburt geschah, aber vielleicht ist da ein Körpergefühl, tief eingebrannt in unser Nervensystem, und wenn ich dabeibleibe und es beschreibe, kommen möglicherweise die Worte: "Es fühlt sich so an, wie völlig hilflos zu sein... voller Schmerz... und niemand ist da..."
Auf diese Weise können die tief in uns vergrabenen Geburtstraumata der Verarbeitung zugänglich gemacht und durch den für Focusing typischen Heilungsprozess geführt werden.
Posted on January 6, 2020 at 6:00 PM |
Beim Fokussieren treten wir in Kontakt mit unserem inneren Erleben. Da ist ein emotionaler oder körperlicher Schmerz, wir spüren Konflikte, Spannungen und auch Bedürfnisse und angenehme Empfindungen.
Es ist ganz normal, dass wir dabei unser Erleben bewerten. Der Schmerz und die Konflikte sind schlecht, die wollen wir nicht spüren, die Bedürfnisse sind gut oder vielleicht auch schlecht und die angenehmen Gefühle sind gut, von denen wollen wir mehr.
Tatsächlich handelt es sich bei diesen Bewertungen ebenfalls um inneres Erleben, das möglicherweise unsere Aufmerksamkeit braucht. Es ist so, als würde ein Aspekt unserer Selbst von einem anderen Aspekt unserer Selbst beurteilt, mit dem wir in der Regel identifiziert sind.
Diese Identifikation birgt die Gefahr, dass wir uns mit etwas in uns gegen etwas anderes in uns verbünden und dem dann kein Gehör schenken. Und dadurch kommt es zum inneren Stillstand und zu inneren Blockaden. Unsere Entwicklung friert ein.
Wenn wir fokussieren wollen, müssen wir uns ALLEM Erleben zuwenden - sowohl dem ursprünglichen als auch dem bewertenden. Wenn wir das tun, lösen sich innere Blockaden und unsere Entwicklung kommt wieder in Fahrt.
Posted on December 30, 2019 at 6:00 PM |
Und was sind Ihre guten Vorsätze für 2020? Weniger Alkohol, weniger Zigaretten, weniger Süßigkeiten, sich weniger aufregen, mehr Sport, mehr Zeit für die Familie, weniger von jenem, mehr von diesem?
All diese Ziele sind natürlich vollkommen in Ordnung, das Problem ist nur, dass die guten Vorsätze meist nicht lange halten. Spätestens ab Mitte Januar fallen wir dann wieder in unsere alten Muster zurück und frönen unseren Süchten. Warum ist das so?
Aus Focusing-Sicht liegt das daran, dass es innere Anteile in uns gibt, die so weiter machen WOLLEN wie bisher. Etwas in uns WILL rauchen, Schokolade essen, untätig auf dem Sofa sitzen und fernsehen. Und das aus einem sehr legitimen Grund, den es zu erforschen gilt.
Dazu müssen wir diesen Anteil zunächst einmal wahrnehmen und das Scheinwerferlicht unserer Aufmerksamkeit auf ihn richten und das Gute, das er für uns will, hören und anerkennen. Erst dann können wir ihn mit Hilfe von Focusing durch einen Wandlungsprozess führen. Und das geht nicht, wenn wir uns mit etwas in uns verbünden, das den Vorsatz fasst, ihn loszuwerden oder ihn einfach zu ignorieren.
Aus diesem Grund lautet mein einziger guter Vorsatz für 2020: mehr Focusing!
Posted on December 23, 2019 at 6:00 PM |
Es ist längst kein Tabu mehr, darauf hinzuweisen, dass für die allermeisten Menschen Weihnachten alles andere als besinnlich ist.
Weihnachten ist eine Konsumorgie geworden, der "Black Friday" und "Cybermonday" vorausgehen. Der Weihnachtsmann und das Christkind kommen schon lange nicht mehr, sondern stattdessen Amazon und DHL.
Und dann sind da noch die klaustrophobischen Familientreffen, bei denen durch das Zusammensein mit unserer Ursprungsfamilie alte Wunden aufreißen, die wir für längst überwunden gehalten hatten. Wie können wir bei all dem Trubel auch nur den allerkleinsten Hauch Besinnlichkeit finden?
Die Antwort lautet: Indem wir in unseren Körper hineinspüren. Wenn wir beim Fokussieren ganz konkret in unser Inneres gehen - in den Bereich von Hals, Brustraum, Magen und Bauch - können wir dort die Resonanzen spüren, die die Weihnachtszeit in uns auslöst. Diesen wenden wir uns dann auf die für Focusing typische Art und Weise zu und treten mit ihnen in Beziehung.
Wenn wir dabei ganz genau hinspüren, können wir wahrnehmen, dass zwischen diesen Resonanzen ein Raum existiert, an dem Ruhe herrscht. Möglicherweise spüre ich den Ärger über meinen Schwager im Solarplexus und den Stress, dass das neue Smart-TV nicht so funktioniert, wie ich mir das wünsche, im Magen. Doch dazwischen, dort irgendwo im Bauch, da fühlt es sich eigentlich ganz offen und weich an.
Wenn wir uns als den Raum wahrnehmen, in dem Platz ist für all diese Empfindungen, und wenn wir ganz bewusst mit unserer Aufmerksamkeit an die Orte in uns gehen, an denen es sich gut anfühlt, ohne dabei die schwierigen Bereiche beiseite zu stoßen, können wir etwas von der Besinnlichkeit finden, nach der wir uns alle sehnen.
Posted on December 17, 2019 at 11:00 AM |
Wenn wir fokussieren, stoßen wir früher oder später auf unerfüllte Bedürfnisse oder Sehnsüchte.
Häufig haben diese ihre Wurzeln in unserer Vergangenheit. Das, was wir eigentlich gebraucht hätten - Kontakt, Geborgenheit, gesehen werden, Trost usw. - hat nicht stattgefunden. Und etwas in uns wartet immer noch darauf, dass das, was gefehlt hat, noch kommt.
In solchen unerfüllten Bedürfnissen steckt unsere unzerstörbare Lebensenergie. Oder besser gesagt: sie ist stecken geblieben, kann aber wieder angezapft und in Fluss gebracht werden.
Das geschieht, wenn wir uns dem, was das Bedürfnis oder die Sehnsucht in sich trägt, zuwenden und nachspüren, wie es sich in unserem Körper anfühlen würde, wenn das Bedürfnis erfüllt wäre. Welches Körpergefühl würde kommen?
Und sehr häufig, aber nicht immer, kommt es dann - zumindest ein bisschen. Und zwar ohne dass sich in der äußeren Welt etwas geändert hat. In der inneren Welt hat sich allerdings sehr wohl etwas verändert.
Gene Gendlin schreibt: "When clients [...] vividly feel what is needed, I can provide the suggestion that they can let their bodies feel the longed for thing as actually happening. Then what is needed fills itself in." (Gendlin 1996: 279)
Meine Übersetzung: "Wenn Klienten [...] ganz lebendig spüren, was benötigt wird, kann ich den Vorschlag machen, dass sie ihren Körper das Ersehnte fühlen lassen, als würde es tatsächlich geschehen. Dann füllt sich das, was gebraucht wird, von selbst aus."
Sobald das geschieht, ist das ein magischer Moment, der echte therapeutische und transformierende Kraft hat.
Posted on November 2, 2019 at 4:45 AM |
"Das seltsame Paradoxon ist, dass ich mich wandeln kann, wenn ich mich genau so akzeptiere, wie ich bin", schreibt Carl Rogers, der Begründer des Personenzentrierten Ansatzes und der sogenannten Gesprächspsychotherapie.
Und tatsächlich machen viele Menschen die Erfahrung, dass es sich im Inneren besser anfühlt, wenn man etwas, das man lange bekämpft hat, so annimmt, wie es ist. Das Erstaunliche ist, dass es in dem Moment häufig seine Form verändert.
Ein Beispiel: Nach jahrelangem Kampf gegen aggressive, explosive innere Anteile seiner selbst, akzeptiert man endlich, dass sie da sind. Und plötzlich fühlen sie sich nicht mehr explosiv an, sondern eher wie eine reife Form der Selbstbehauptung, die man sehr gut kontrollieren kann.
Wenn ich das einmal beobachtet habe, könnte ich in Zukunft versuchen, etwas in mir, das mich stört, einfach zu akzeptieren, damit es sich verändert. Doch das funktioniert leider nicht. Es stört mich ja und deswegen kann ich es nicht akzeptieren. Wie kann man diese paradoxe Situation auflösen?
Zunächst einmal, indem ich mir bewusst mache, dass nicht ich MICH annehmen muss, sondern ETWAS in mir. Da bin ICH, der wahrnimmt und spürt, und da ist ETWAS, das sich nicht so entwickelt hat, wie es nötig gewesen wäre, beispielsweise etwas, das in bestimmten Situationen explosiv wütend wird. Und ICH kann eine Beziehung zu dem ETWAS aufnehmen und sagen: "Ja, du bist wirklich da!"
Das bedeutet aber nicht, dass ich mich ihm einfach ergebe und nicht daran arbeite. Vielmehr schafft meine Beziehung zu dem explosiven Etwas einen geschützten Raum, in dem es erst einmal sein und atmen kann. In diesem Raum kann ich es dann erforschen: Wie fühlt es sich an? Wie sieht es aus? Was möchte es für mich erreichen? Und vielleicht auch: Woher kommt es?
Und dann verwandelt es sich, denn (fast) nichts in uns ist ein für alle mal so, wie es gerade ist. Alles befindet sich im Wandel, ist ein Prozess. Dieser Prozess kann stecken bleiben und dann fühlt es sich so an, als wäre da etwas in Stein gemeißelt. Der Prozess kann aber auch wieder in Fluss geraten und dann verändere ich mich.
Wenn ICH in Beziehung trete zu ETWAS in mir, das sich nicht gut anfühlt, und ihm Raum gebe und akzeptiere, dass es da ist, auch wenn es mir (oder anderen Teilen von mir) nicht gefällt, kann es auftauen und wieder zu dem Prozess werden, der es eigentlich ist. Und das ist kein Paradoxon, sondern schlicht und ergreifend das Leben!
Posted on August 30, 2019 at 11:00 AM |
Ich erinnere mich noch genau an eine Focusing-Sitzung, die ich vor vielen Jahren allein mit mir durchgeführt habe. Damals hatte ich gerade an einer Einführungsveranstaltung ins Focusing teilgenommen.
Während dieser Sitzung stieg der tiefe Wunsch in mir auf, kreativ zu sein, zu schreiben und zu gestalten. Das war sehr überraschend für mich, da ich mich bis zu diesem Zeitpunkt als einen eher analytischen Typ gesehen hatte, der mit Kunst und Kreativität nichts am Hut hat.
Mit Focusing können wir unsere kreative Energie finden und entdecken, wie und wohin sie fließen möchte. Ins Schreiben, Malen, Tanz, Dichten, die Musik, die Schauspielerei, Gesang oder einen anderen Bereich?
Indem wir nachspüren, finden wir nicht nur die richtige Richtung, sondern auch den nächsten richtigen gestalterischen Schritt, den nächsten Satz, Vers, Pinselstrich, Ton usw.
Ich bin davon überzeugt, dass echte Kunst genau so entsteht, auch wenn der Künstler noch nie etwas von Focusing gehört habt. Wirkliche Künstler folgen ihrem Felt Sense, spüren nach und lassen den nächsten Schritt vom unklaren Rand in sich kommen, von dort, wo sie etwas spüren, das eindeutig da, aber noch ungeformt ist, das noch keinen Ausdruck gefunden hat. Von diesem unklaren Rand kann etwas wirklich Neues kommen, etwas, das noch nie jemand vor einem ausgedrückt hat.
Mit Focusing können wir auch die inneren Blockaden finden und auflösen, die unserer Kreativität im Wege stehen. Was in mir verhindert den Fluss meiner kreativen Energie?
In meinem Fall war das etwas, das panische Angst davor hatte, dass ich vernichtet werde, wenn ich in der Öffentlichkeit sichtbar bin.
Mit Hilfe von Focusing habe ich dieses Etwas durch Prozesse führen können, so dass meine Kreativität nun deutlich flüssiger ist. Das Ergebnis: eine gut besuchte Webseite, zwei Kurzromane, zahlreiche Youtube-Videos usw.
Auch eine meiner Focusing-Schülerinnen hat auf diese Weise ihre Kreativität entdeckt und ein wundervolles, spirituelles, heilsames Büchlein geschrieben, das ich allen nur wärmstens ans Herz legen kann:
Carolin Lichthaus: Das Zarte und das Wunderbare: Ein Geschenk für dein Herz
Posted on August 21, 2019 at 6:35 PM |
Vor allem ältere Menschen haben manchmal das Gefühl, dass es zu spät ist, sich zu verändern. Jahrzehnte haben sie mit ihren alten Mustern und Begrenzungen gelebt. Was soll es jetzt noch bringen, daran zu arbeiten?
Als Antwort darauf möchte ich Gene Gendlin, den Begründer von Focusing, zitieren:
"Ein großer Teil des schlechten Gefühls wegen dem, was wir verpasst haben, rührt in Wahrheit daher, dass wir immer noch dieselben sind. Wir würden all das noch einmal verpassen! Im Nachhinein hätten wir all das Verlorene in der Vergangenheit vermeiden können. Aber in ähnlichen Situationen verhalten wir uns heute genauso! Sobald sich das ändert, können wir das Verlorene viel leichter aushalten.
Selbst wenn wir nicht sofort auf eine neue Art und Weise leben können, bringt es Energie, sich seinen Begrenzungen zu stellen. Die Herausforderung sorgt für frische Luft."
(Gendlin, E.T.: Let Your Body Interpret Your Dreams. Chiron Publications: Wilmette (Illinois) 1986; meine Übersetzung)
Posted on July 27, 2019 at 6:35 PM |
Wenn wir geboren werden, sind wir unschuldige, zarte Wesen, die von liebevollen Händen in der Welt empfangen werden müssen.
Leider meint die Welt es aber oft nicht gut mit uns. Unsere Bezugspersonen haben nicht die Feinfühligkeit, die wir bräuchten, die politischen, sozialen oder ökonomischen Bedingungen verhindern, dass wir uns gut entwickeln, oder wir werden sogar in einem Kriegsgebiet geboren mit all den Traumatisierungen, die das nach sich zieht.
Die körperlichen und emotionalen Verletzungen, die wir durch solche Gegebenheiten erleiden, führen sehr wahrscheinlich dazu, dass wir selbst falsche Entscheidungen treffen und anderen Menschen und uns selbst in irgendeiner Weise wehtun.
Doch unsere unschuldige, zarte Essenz lebt weiter in uns, egal was uns widerfahren ist und egal was wir selbst gemacht haben. Manchmal können wir vielleicht einen Hauch dieser Qualität spüren. Es ist weniger ein Danach-suchen als ein Da-sein-lassen, sobald sie von alleine kommt.
In dem Maße, wie wir uns unserem inneren Erleben zuwenden und die Anteile unserer selbst durch den Entwicklungsprozess führen, den sie benötigen, wird unser zartes, unschuldiges Ich immer häufiger kommen. Wichtig ist zu spüren, wenn das passiert, da es sich vermutlich anfangs nur sehr kurz und sehr flüchtig zeigt.
Es ist so, als würde Gutheit nach und nach in unseren Körper zurückkehren. Diese Gutheit ist unser eigentliches Wesen, das, was wir eigentlich sind und waren, bevor widrige Umstände uns verbogen haben. Es handelt sich dabei nicht um das, was "inneres Kind" genannt wird. Das sogenannte "innere Kind" ist ein Anteil, der durch einen Prozess geführt werden muss, damit unsere unschuldige Essenz wieder zutage treten kann.
Und noch einmal: Man kann nicht danach suchen, sondern es geschieht von alleine, wenn man die innere Arbeit betreibt, die durch Focusing vorangetrieben wird.
Posted on July 20, 2019 at 8:05 AM |
Keiner von uns geht ohne Verletzungen und Verluste durchs Leben. Ob daraus ein Trauma wird oder nicht, hängt von mehreren Faktoren ab.
Wir können Trauma als ein Ereignis definieren, dass uns in unserer körperlichen oder psychischen Existenz bedroht und das so intensiv ist, dass unser Nervensystem es nicht verarbeiten kann.
Das Ereignis selbst spielt dabei natürlich auch eine Rolle, aber nicht die entscheidende. Das erkennt man daran, dass unterschiedliche Menschen, bedingt durch ihre Lebensgeschichte und ihren kulturellen Hintergrund, bestimmte Ereignisse völlig anders bewerten.
Was der eine als bedrohlich erlebt, ist es für den anderen noch lange nicht. In der einen Kultur ist Nacktheit schockierend, in der anderen ist sie völlig normal. Ein geübter Fallschirmspringer erlebt den Sprung aus großer Höhe als Kick, jemand, der gezwungen ist, per Fallschirm aus einem abstürzenden Flugzeug zu springen, als extrem beängstigend. (Natürlich gibt es auch Ereignisse, die universell als bedrohlich erlebt werden, wie z.B. ein Überfall, eine Vergewaltigung oder die Begegnung mit einem Tiger in freier Wildbahn).
Ob sich dieses Erlebnis aber nun als Trauma in unser überfordertes Nervensystem einbrennt oder nicht, ist vor allem davon abhängig, wie wir von anderen Menschen NACH dem Vorfall unterstützt werden. Werden wir gehalten und in den Arm genommen, wird uns zugehört und geglaubt, dürfen wir davon erzählen, wie es uns geht, und dürfen wir die aufgestaute Energie herauslassen, dann kommt es zu KEINEM Trauma.
Bekommen wir diese Unterstützung jedoch nicht, bleibt die Energie in unserem System stecken und wir rennen fortan mit ihr durchs Leben. Diese Energie wird dann ihr Unwesen in uns treiben und sich solange in für uns unerklärlichen Symtomen äußern, bis wir jemanden finden, der uns hilft, sie zu verarbeiten. Und das macht Hoffnung, denn diese Hilfe ist auch noch Jahre oder sogar Jahrzehnte später möglich.
Focusing nach Gene Gendlin und Somatic Experiencing nach Peter Levine sind zwei (sich sehr ähnliche) Prozesse, die dabei helfen können, die angestaute Energie des unverarbeiteten Traumas wieder in Fluss zu bringen. Wirksam werden diese Methoden dann, wenn sie in einer unterstützenden Beziehung, wie oben beschrieben, eingebettet sind.
Posted on May 29, 2019 at 3:20 PM |
Wenn wir selbst fokussieren oder die Focusing-Prozesse anderer Menschen begleiten, bewerten und beurteilen wir nicht, was im Prozess geschieht oder sich zeigt. Wenn wir spüren, dass in uns Bewertungen oder Beurteilungen aufsteigen, dann machen wir sie zu einem Teil unseres Prozesses, indem wir beispielsweise sagen:
"Ich spüre etwas in mir, dass etwas in mir kritisiert/verachtet/weg haben/anders haben will etc."
Anschließend wenden wir uns dem zu, was bewertet oder beurteilt, um nachzuspüren, was es antreibt.
Einige von uns üben jedoch Berufe aus, in denen wir gezwungen sind, dienstliche Beurteilungen abzugeben oder Menschen und ihre Leistungen in irgendeiner Form zu bewerten.
Da ich selbst nicht nur Focusing-Trainer bin, sondern auch Lehrer im staatlichen Schulsystem, gilt das für mich ganz besonders. Ständig muss ich Klassenarbeiten korrigieren, Abiturprüfungen abhalten, Zeugnisnoten geben etc. Wie lässt sich das mit der oben beschriebenen Focusing-Haltung, die mir inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen ist, vereinbaren?
Die Wahrheit ist, dass mir das lange Zeit sehr schwer gefallen ist und auch heute noch würde ich lieber keine Zensuren geben müssen. Da aber nun einmal genau das von mir verlangt wird und ich meine Arbeit mit den Kindern und ihren Eltern zu sehr liebe, um sie an den Nagel zu hängen, gehe ich wie folgt vor:
Ich lasse einen Felt Sense in mir aufsteigen, also ein ganzheitliches, körperlich spürbares inneres Gefühl, welche Zahl auf der Skala von 1 bis 6 sich für mich richtig anfühlt bezüglich einer bestimmten Leistung.
In dieses Gefühl fließen die erbrachte Leistung selbst mit ein, die Bewertungskriterien, die ich anlegen muss, das Kind, das die Leistungen erbracht hat, und seine Hintergrundgeschichte, meine Gefühle gegenüber diesem Kind, das Verhältnis zu der Leistung anderer Kinder und vor allem mein Gespür dafür, welche Note welche Reaktion bei dem Kind auslösen wird, welche Zensur es braucht, um sich positiv zu entwickeln.
In der Regel erspüre ich so eine Note, die sich für mich richtig anfühlt. Sehr häufig sind das gute Noten, manchmal spüre ich aber auch, dass es eine Fünf braucht, um eine Vorwärtsbewegung in Gang zu setzen.
Dabei bemühe ich mich so gut ich kann, im Kontakt zum inneren Erleben das Kindes zu bleiben und mit ihm darüber zu sprechen. Die Beziehungsebene und der Kontakt zum inneren Erleben müssen Vorrang haben vor allen Beurteilungen und Bewertungen, zu denen wir gezwungen werden, wenn wir Entwicklung fördern wollen! Wenn wir das nie vergessen, dann können auch wir Focusing-Leute Beurteilungen und Bewertungen abgeben.
Posted on April 22, 2019 at 4:00 PM |
Focusing wird häufig als eine Methode dargestellt, die gleichberechtigt neben vielen anderen steht. Es gibt die Gewaltfreie Kommunikation, Meditation, Yoga, die unterschiedlichsten psychologischen Schulen und unzählige andere Wege, um zu sich selbst und anderen Menschen zu finden - und es gibt eben auch Focusing.
Es ist vollkommen berechtigt, Focusing neben all die anderen Methoden zu stellen, denn wir haben eine Vorgehensweise, die sich deutlich von diesen unterscheidet. Kern dabei ist die Kontaktaufnahme zu unseren sogenannten Felt Senses, zu unserer körperlich spürbaren Resonanz auf vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Lebenssituationen. Die Dimension des Felt Senses spielt in anderen Methoden kaum eine Rolle, auch wenn sich einige inzwischen des Begriffes „Felt Sense“ bedienen, den Eugene Gendlin, der Begründer von Focusing, geprägt hat. (Meist wird dieser Begriff aber missverstanden.)
Focusing kann tatsächlich jedoch noch viel mehr sein als eine Methode neben anderen. Für mich persönlich ist Focusing eine Meta-Methode, die die Fähigkeit vermittelt nachzuspüren, welche anderen Methoden zu mir passen und für mich funktionieren. Was fühlt sich gut für mich an und was nicht? Vielleicht gibt es einzelne Elemente anderer Vorgehensweisen, die mir weiterhelfen?
Ich selbst habe gute Erfahrungen gemacht mit der Gewaltfreien Kommunikation, mit Vipassana-Meditation, Chi-Gong und verschiedenen psychologischen Schulen, wie beispielsweise dem personenzentrierten Ansatz nach Rogers und der Bindungstheorie nach Bowlby und Ainsworth. Erkenntnisse aus diesen Ansätzen haben mich ungemein bereichert und ich würde auf nichts davon verzichten wollen.
Außerdem nutze ich all diese Wege mit einer Focusing-Orientierung, indem ich bei allen Schritten, die ich mir dort entliehen habe, Kontakt herstelle zur Felt-Sense-Dimension, zum ganz konkret um Körper spürbaren Erleben – sowohl bei mir selbst als auch bei meinen Klienten. So entgeht man der Entweder-oder-Falle - entweder betreibe ich Focusing oder Gewaltfrei Kommunikation, aber nicht beides gleichzeitig. Wenn ich immer wieder in meinen Körper hinein spüre, egal was ich gerade mache, ist es möglich, Focusing mit allen anderen Methoden zu kombinieren. Dadurch werden diese Methoden effektiver und Focusing selbst auch.
In diesem Sinne ist Focusing tatsächlich eine Meta-Methode.
Posted on April 15, 2019 at 6:00 PM |
In der letzten Zeit melden sich immer wieder Leute bei mir, die entweder Somatic-Experiencing-Sitzungen nach Peter Levine gemacht haben oder die selbst eine Somatic-Experiencing-Ausbildung absolvieren. Meist kommt dann die Frage auf, wie sich Focusing davon unterscheidet. Beide Methoden sind sich in der Tat so ähnlich, dass man meinen könnte, sie hätten dieselben Wurzeln. Doch das ist nicht so.
Focusing ist aus der Synthese des philosophischen Werks Eugene Gendlins und seiner Pionierarbeit im Bereich der Psychotherapie entstanden, und zwar in den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts, also deutlich vor Somatic Experiencing.
Dieses geht auf die Arbeit Peter Levines mit Menschen zurück, die ein Schocktrauma erlebt haben, wie beispielsweise Autounfälle, Krieg oder Vergewaltigung. Dabei wird besonders auf Bewegungen geachtet, die spontan entstehen und Ausdruck eines unvollendeten Angriffs- oder Fluchtimpulses sind. Kann sich die im Nervensystem aufgestaute Energie entladen, flaut das Trauma nach und nach ab.
Peter Levine hat zwar die Schriften Eugene Gendlins gelesen und dessen Konzept des "Felt Sense" übernommen (einer Körperempfindung mit einer Bedeutung oder Botschaft), trotzdem handelt es sich bei Somatic Experiencing um eine eigenständige Methode mit etwas anderen Schwerpunkten und einem eingeschränkteren Anwendungsbereich - nämlich der Verarbeitung von Schocktraumata.
Demgegenüber hat Focusing einen viel weiteren Anwendungsbereich. Wir spüren in unseren Körper, um herauszufinden, welche Bedürfnisse wir haben und was sich für uns richtig anfühlt. Außerdem geht es uns um die Heilung alter Verletzungen, vor allem der Wunden, die Entwicklungstraumata hinterlassen haben. Auch Schocktraumata können mit Focusing verarbeitet werden, jedoch sollte dies im Rahmen einer Psychotherapie bei einem kompetenten Psychotherapeuten geschehen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass denjenigen von uns, die ein einzelnes oder mehrere einzelne schlimme Erlebnisse, wie Vergewaltigung, Unfälle oder Gewalt, erlebt haben, durch Peter Levines geniales Somatic Experiencing geholfen werden kann. Diejenigen von uns, die auf der Suche nach einer Methode sind, mit der sie sich selbst und andere im Alltag unterstützen und erforschen können, und die alte emotionale Wunden heilen wollen, sind vermutlich bei Focusing besser aufgehoben.
Posted on April 8, 2019 at 6:00 PM |
Die Welt der Psychologie ist voller Diagnosen. Diejenige, die ich am häufigsten bei Erwachsenen höre, lautet "Depression" und bei Kindern und Jugendlichen "AD(H)S". Andere Diagnosen, von denen Menschen mir berichten, sind "Neurosen", "Schizophrenie", "Introjektionen", "Borderline-Störungen" und medizinisch klingende Begriffe, manchmal auch lateinischer Herkunft, die so kompliziert sind, dass ich sie mir nicht merken kann.
Bei solchen Begriffen handelt es sich aus meiner Sicht um Etiketten, die einer bestimmten Ansammlung von Symptomen aufgeklebt werden, um sie irgendwie handhabbar zu machen und darüber reden zu können.
Vielleicht macht das Sinn, um bei Krankenkassen Leistungen für dringend benötigte Hilfe abrufen zu können. Manchmal schafft es für die Betroffenen auch eine gewisse Erleichterung, endlich ein Wort zu haben, das einem erklärt, was mit einem angeblich los ist.
Häufig handelt es sich aber auch um ein Stigma, das nur schwer zu ertragen ist. Wer möchte seinen Kollegen schon erklären, dass sie in der nächsten Zeit die ganze Arbeit alleine machen müssen, weil er oder sie eine "post-traumatische Belastungsstörung" hat?
Aus Focusing-Perspektive sind all diese Etiketten und Kunstwörter, die man teilweise kaum aussprechen kann, komplett nutzlos. Wir Focusing-Leute diagnostizieren nicht und wenn uns ein Mensch, mit dem wir arbeiten, mit einem solchen Label konfrontiert, das ihm woanders aufgeklebt wurde, übernehmen wir den Jargon nicht und laden die Person stattdessen ein, ganz konkret in ihrem Körper nachzuspüren, wie sich "all das, was damit zu tun hat" dort anfühlt.
Wo kann sie das, was andere als "Neurose" bezeichnen, spüren? Wie fühlt es sich an? Ist es ein Ziehen oder Stechen oder Drücken? Hat es eine Farbe oder Form oder Temperatur? Wie ist die emotionale Qualität? Traurig? Verzweifelt? Ängstlich? Wütend? Oder fühlt es sich von seinem Standpunkt aus überraschenderweise gut an, wie das bei sogenannten "Perversionen" meistens der Fall ist?
Dieses ganz konkrete Nachspüren im Körper öffnet Tore für einen Veränderungsprozess, der verschlossen bleibt, wenn wir lediglich ÜBER das zugrundeliegende Erleben sprechen und mit Begriffen um uns schmeißen. Wenn innere Zustände ein Fachwort aufgeklebt bekommen, das im besten Fall Ehrfurcht einflößt und im schlechtesten Angst, wie beispielsweise "Psychose", dann wird der Heilungsprozess, der eigentlich möglich wäre, verhindert.
Wenn Ihnen also eine Diagnose ausgestellt wurde, dann legen Sie diese einmal eine Weile beiseite und spüren Sie nach, wie sich das, worum es geht, in Ihrem Körper anfühlt, und seien Sie offen für das, was Sie dort wahrnehmen. Das ist der Focusing-Weg!