top of page

Radikales Sanftsein:

Die Verwandlung des Inneren Kritikers

Ann Weiser Cornell

(Ins Deutsche übertragen von Arno Katz)

„Es ist, als würde ich es nicht verdienen, so glücklich zu sein.“

 

„Ich hasse diesen schwachen, traurigen Teil von mir.“

 

„Warum muss ich immer so dumm sein?“

 

 

Egal, welche Art innerer Arbeit man betreibt, an irgendeinem Punkt trifft man immer auf ein Erleben, welches als Innerer Kritiker bezeichnet werden kann. Das ist oft (aber nicht immer) eine Stimme, die oft (aber nicht immer) streng und attackierend ist, und die häufig aufzutreten scheint, wenn man kurz vor einem positiven neuen Schritt steht oder eine innere Verletzung berührt. Dieser sogenannte Innere Kritiker scheint Gefallen daran zu finden, alles Kleine, Zarte, Neue und Positive zu zerquetschen. Kein Wunder, dass fast jede Methode, von der ich je gehört habe, den Inneren Kritiker als etwas behandelt, das besiegt, weggedrückt, vielleicht sogar lächerlich gemacht oder selbst kritisiert werden muss. (Als bemerkenswerte Ausnahme siehe Die Systemische Therapie mit der inneren Familie von Richard Schwartz.)

 

 

Wenn die innere Welt Strenge, Mangel an Akzeptanz, Urteile (im Sinne von verurteilend) beinhaltet, wird sie zu einem unsicheren Ort für positive heilsame Veränderungen. Teile unserer selbst, die vielleicht zu dem hätten erblühen können, was nötig gewesen wäre, werden stattdessen zertreten und verstecken sich. Offensichtlich ist das ein trauriger Stand der Dinge. Aber es gibt keine wirklichen Schurken und Opfer hier. Jeder im Inneren tut sein Bestes, um uns zu helfen... wie wir sehen werden.

„Ein Teil, der jetzt gerade kritisiert“

 

 

Dieser strenge innere Angreifer ist „der Innere Kritiker“ getauft worden, ich würde ihn jedoch lieber als „einen Teil, der jetzt gerade kritisiert“ bezeichnen. Wie immer wollen wir unseren Sprachgebrauch auf eine Weise verwenden, die die Möglichkeit einer Veränderung eröffnet. Ja, kritisierende Teile können sich ändern, ich habe das viele Male geschehen sehen. Lassen Sie ihn uns also „einen Teil, der jetzt gerade kritisiert“ nennen. Sobald wir einmal diese Formulierung verwenden, entdecken wir vielleicht sogar, dass wir neugierig werden auf das, was ihn so kritisch macht. Wir haben eine entscheidende Verschiebung vorgenommen, weg davon, diesen Teil von uns als kritisch vom seinem Wesen her, von Natur aus, zu sehen, hin dazu, ihn als zeitlich begrenzten Zustand zu betrachten, der aus einem guten Grund entstanden ist.

 

 

Dies kommt der Verschiebung gleich, die wir vornehmen, wenn wir aufhören, einen anderen Menschen als durch und durch schlecht zu etikettieren und anfangen, sein Verhalten aus einem bestimmten Blickwinkel als verständlich zu betrachten. Wenn ich die Unordnung im Zimmer meiner Tochter sehe, kann ich sie für „faul“ halten oder ich kann mich daran erinnern, wie schwer es für mich war, meine Sachen aufzuhängen, als ich so alt war wie sie. Diese Wahrnehmungsverschiebung wird sich zutiefst auf mein Verhalten ihr gegenüber auswirken. Das bedeutet nicht, dass ich aufhöre zu wollen, dass sie ihr Zimmer aufräumt, aber es wird sich darauf auswirken, was ich zu ihr sage, wie ich es sage, wie sie mich wahrnimmt und letztlich auch auf die Qualität unserer Beziehung.

 

 

 

Eine prozesshafte Sichtweise

 

 

Wenn die Menschen hören, dass Ann und Barbara vorschlagen, dass Fokussierende Mitgefühl für den Kritiker in ihnen zeigen sollen, haben sie Zweifel. Es ist so, als würden wir vorschlagen, dass sie einen Tyrannen lieben sollen. Mitgefühl zu zeigen für einen kritisierenden Teil fühlt sich so an, als wäre man froh, dass er da ist und unser Leben vermiest.

 

 

Dies setzt aber wiederum voraus, dass Teile unserer selbst festgelegt und unveränderlich sind. „Einmal ein Kritiker, immer ein Kritiker.“ Daher schlage ich die Formulierung „ein Teil von mir, der jetzt gerade kritisiert“ vor. Diese sprachliche Verschiebung kommt einer tiefen Bewusstseinsverschiebung gleich. Es existiert die Annahme, verankert in unserem üblichen Sprachgebrauch und in unserer Sicht der Welt, dass wir aus Einheiten zusammengesetzt sind, die sich nicht wesentlich ändern. Wie Gendlin lehrt (siehe A Process Model), müssen wir uns nicht als aus Einheiten bestehend betrachten, welche dann miteinander interagieren, sondern eher als Prozess. Prozess und Interaktion kommen zuerst.

 

 

In der inneren Welt und aus Sicht des Focusing ist das sonnenklar: Wenn man irgendetwas Gesellschaft leistet, ändert es sich. Leisten Sie etwas Gesellschaft, das sich ängstlich fühlt, dann wird es aufgeregt oder besorgt oder ärgerlich. Das ist eine Entwicklung im Gefühlsleben, die im Vorhinein unvorhersagbar ist, die im Nachhinein aber Sinn ergibt.

 

 

Warum berichten dann aber erfahrene Fokussierende von Inneren Kritikern, die Jahr für Jahr gleich zu sein scheinen, die immer noch kritisieren und immer noch dieselben boshaften Sätze sagen? Weil bis jetzt etwas an der Art der Aufmerksamkeit, die dem kritisierenden Teil geschenkt wird, gefehlt hat.

Kann ich mir trauen?

 

 

Das Erleben eines Inneren Kritikers basiert zutiefst auf einem Mangel an Vertrauen auf einen natürlichen Entfaltungsprozess, der eine das Leben vorantreibende Richtung aufweist. Wenn die Menschen, wie Freud es glaubte, eine grundlegend wilde und primitive Seite haben, die verdeckt werden muss, dann wird ein Innerer Kritiker/ Kontrolleur von entscheidender Bedeutung für jede zivilisierte Person. (Freud nannte diese beiden Teile das „Es“ und das „Über-Ich“.) Wenn sich emotionale Zustände und Verhalten nicht auf natürliche Art und Weise aus sich selbst heraus zu etwas Positiverem entwickeln, dann muss der Wandel aufgezwungen werden.

 

 

Die Tragödie des inneren kritisierenden Prozesses ist, dass ein Teil von uns das Vertrauen in einen anderen Teil von uns verloren hat. Wie es eine junge Frau einmal ausdrückte: „Ein Teil von mir ist sehr ärgerlich auf mich, mein Verhalten und meine Entscheidungen. Er sagt: ‚Du bist völlig außer Kontrolle geraten, ich vertraue dir nicht, dass du gute Entscheidungen triffst.’“

 

 

Und wir sehen immer und immer wieder, wenn wir mit Mitgefühl in die Seele eines kritisierenden Teiles blicken, dass er glaubt, er hilft uns. Er muss helfen, indem er kritisiert, weil er befürchtet, dass für den anderen Teil von uns, den er wegdrückt oder zurückhält, keine andere Hoffnung auf Wandel besteht. Dies ist wichtig und wir werden darauf zurückkommen.

 

 

 

Einen kritisierenden Prozess identifizieren

 

 

Vielleicht glauben Sie, es sei offensichtlich, wenn ein kritisierender Prozess am Werke ist. Die meiste Zeit jedoch werden wir in einen kritisierenden Prozess verwickelt, ohne dass wir uns dessen bewusst werden, weil wir mit einem der inneren Charaktere des Dramas identifiziert sind. Wir hören uns selbst Dinge sagen wie etwa:

 

 

„Das ist dumm.“

 

„Ich muss aufhören, so weinerlich zu sein.“

 

„Ich fühle mich unzulänglich.“

 

„Ich sollte nicht so fühlen.“

 

 

Ein innerer kritisierender Prozess korreliert mit dem folgenden Verhalten:

 

 

(1) Die Verwendung herabwürdigender Sprache, wie etwa „dumm“, „weinerlich“, „unzulänglich“ und ähnlicher kritischer Etiketten, ist immer ein Zeichen für einen kritisierenden Prozess. Siehe nächster Abschnitt, um mehr über dieses Thema zu erfahren.

 

 

(2) Der Gebrauch vorschreibender Sprache, wie zum Beispiel „sollen“ oder „müssen“ und deren Verneinungen „nicht sollen“, „nicht müssen“ usw., weisen auf einen kritisierenden Prozess hin.

 

 

(3) Der Versuch, sich zu ändern, oder einen Teil von sich, ist wahrscheinlich ein Zeichen für einen inneren kritisierenden Prozess, besonders, wenn ihm die Annahme zugrunde liegt, dass die Veränderung geschehen muss, damit man in Ordnung ist. Kein Wunder, dass die Welt der Selbsthilfe so voller Innerer Kritiker ist! Es braucht einen großen Bewusstseinssprung, um zu verstehen, dass persönliches Wachstum mit Selbstakzeptanz anfangen muss, nicht mit Selbstkritik. (Für einen erfrischend anderen Ansatz siehe das hervorragende I Know I’m in There Somewhere von Helene Brenner, ein Buch, das auf der Idee basiert, dass Selbstakzeptanz der Weg zum Wandel ist.)

 

 

Definition: Ein innerer kritisierender Prozess ist ein Teil von uns, der glaubt, dass wir uns selbst oder dass sich ein anderer Teil von uns ändern muss, damit wir in Ordnung sind.

 

 

 

Die Wahrheit beim Etikettieren

 

 

Wie wir gesehen haben, zeigt sich der innere kritisierende Prozess häufig durch einen herabwürdigenden Sprachgebrauch, den wir bei der Etikettierung unseres Erlebens verwenden. Dieser Prozess kann schwer zu erkennen sein und daher ist es auch schwer, mit ihm umzugehen. Wir können so identifiziert sein mit dem Teil von uns, der einen anderen Teil etikettiert, dass wir nicht bemerken, dass die Etiketten als Waffen in einem Krieg dienen. Sie fühlen sich an wie „die Wahrheit“. Aber sie sind es nicht.

 

 

Vor Kurzem war ich Begleiterin in einer Focusing-Sitzung, in der die fokussierende Person Zeit mit einem inneren „Etwas“ verbrachte, das sich nicht mitteilen wollte. Sie beschrieb dieses „Etwas“, wie wir es im Focusing tun, indem sie sagte: „Es ist klein und hart wie ein Klumpen... Es möchte, dass ich hier bin, es ist froh, dass ich ihm Aufmerksamkeit schenke... Es möchte, dass ich hier bin, aber es möchte nicht mit mir reden. Es fühlt sich an wie ein egoistischer, beherrschender Teil…“ Merken Sie, was passiert ist? Von einfachen direkten Beschreibungen wie „klein und hart wie ein Klumpen“ hat sich die Fokussierende weiter bewegt auf empathisches Verständnis für seinen Standpunkt („Es möchte, dass ich hier bin.“) und dann setzten die herabwürdigenden Formulierungen ein. „Egoistisch“ und „beherrschend“ sind keine einfachen Beschreibungen. Es sind Brecheisen, Werkzeuge, um den sich widersetzenden Wandel zu erzwingen. Sie stammen auch aus einer Perspektive, und das ist nicht die Perspektive des Teils, der beschrieben wird.

 

 

In diesem Fall antwortete ich: „Sie spüren etwas in sich, dass den kleinen, harten Teil „egoistisch“ und „beherrschend“ nennt. Vielleicht wollen Sie auch diesen Teil willkommen heißen.“ Der Fokussierenden, die solch einen Sprung zurück in die Präsenz gewohnt war, gelang dies und sie berichtete: „Ja, der Teil von mir kann nicht verstehen, wie etwas meine Aufmerksamkeit verlangen kann, ohne mit mir reden zu wollen. Er möchte wirklich, dass dieses Etwas redet.“

 

 

Was für ein riesen Unterschied! Wir haben uns bewegt von „Es fühlt sich an wie ein egoistischer, beherrschender Teil“ zu „[Etwas in mir] möchte wirklich, dass dieses Etwas redet.“

 

 

Und bedenken Sie Folgendes: Wann immer Sie etwas im inneren Prozess finden, bei Ihrem eigenen Focusing oder dem eines anderen, und dieser Teil möchte sich nicht mitteilen, möchte nicht herauskommen, möchte sich nicht enthüllen, dann besteht in 99 von 100 Fällen die Wahrscheinlichkeit, dass er sich nicht sicher fühlt, und er fühlt sich nicht sicher, weil ein anderer Teil des Fokussierenden im Hintergrund lauert, bereit, ihn zu kritisieren.

 

 

Wenn also herabwürdigende Etiketten bei inneren Beschreibungen verwendet werden, sind sie gewöhnlich ein Zeichen dafür, dass ein anderer Teil anwesend ist, versteckt in identifizierter Position, der den Prozess unsicher macht und sich selbst nicht zu erkennen gibt.

Präsenz ist das Gegenteil von Kritik

 

 

Die Umgebung, in der der innere kritisierende Prozess anfangen kann, sich zu verwandeln, ist Präsenz. „Präsenz“ ist, was Babara McGavin und ich die Fähigkeit oder den Zustand nennen, mit interessierter Neugier und ohne zu urteilen bei einem inneren Erleben zu verweilen.

 

 

Präsenz ist in vielerlei Hinsicht das Gegenteil des inneren kritisierenden Prozesses. In Präsenz sind wir in der Lage, voller Sanftheit und mit Vertrauen auf die das Leben vorwärts treibende Richtung, uns allem zuzuwenden, was wir fühlen, was auch immer in uns vorgeht. In Präsenz versuchen wir nicht zu verändern, was wir finden, sondern nur, es zu hören, so dass es seinen eigenen Wandel vollziehen kann, wenn es möchte. (Siehe die Einführung zu „Präsenz fördern“ in diesem Buch, um mehr zu erfahren.)

 

 

Der innere kritisierende Prozess ist nicht Präsenz, sondern er braucht Präsenz. Wenn wir den Kritiker kritisieren, verewigen wir das Problem. Das ist ein subtiler und äußerst wichtiger Punkt, lassen Sie es mich es also noch einmal sagen: Wenn wir den Kritiker kritisieren, verewigen wir das Problem. Diesen Teil von uns anzuklagen, weil er so ist, wie er ist, bedeutet, dass wir sein Kritiker werden – und das verschiebt einfach dieselbe Dynamik auf eine andere Ebene. Fast alle Ansätze, mit dem Inneren Kritiker umzugehen, sind von dieser Art: Sie marginalisieren den kritisierenden Aspekt, beschimpfen ihn sogar dafür, dass er so kritisch ist, und schicken ihn letztlich in die Verbannung.

 

 

Es gibt zwei Probleme bei solch einer Herangehensweise. Das erste Problem ist, dass sie nicht funktioniert. Wird er weggeschoben, kommt der Innere Kritiker immer zurück. Sobald wir später seine Herkunft und seinen Zweck verstehen, werden wir einsehen, warum er zurückkommen muss, stärker denn je, wenn er weggeschoben wird.

 

 

Das zweite Problem hat mit der Dynamik der Verbannung zu tun. Wenn Aspekte unseres inneren Erlebens aus dem Bewusstsein geschoben werden, verschwinden sie nicht wirklich. Sie wirken implizit, das bedeutet, sie sind extrem mächtig, ohne im Bewusstsein zu sein, was dazu führt, dass sich unser Leben für den Teil von uns, der im Bewusstsein verbleibt, noch unvorhersehbarer und noch stärker außer Kontrolle anfühlt.

 

 

Ein Beispiel hierfür: Vor einigen Jahren kam meine gute Freundin R. völlig verärgert zu mir. Wie hatte ich ihr das nur antun können? „Was?“, fragte ich. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Sie erinnerte mich: Bei einer Konferenz rief ich ihr zu, sie solle anders vorgehen, als sie gerade mit der Gruppe eine Übung durchführte. Sie fühlte sich verletzt. Sie hatte Kritik und Ärger in meiner Stimme gehört. Ich erinnerte mich nur daran, behilflich sein zu wollen. Da ich ihre Sicht aber respektierte, fokussierte ich und lud etwas in mir ein, ins Bewusstsein zu treten, das vielleicht Gefühle gegenüber R. hatte. Sicher, da war etwas in mir, das kritische Gefühle für sie gehegt hatte, die aus unserer gemeinsamen Vergangenheit vor langer Zeit stammten. Weil ich mir selbst jener nicht bewusst gewesen war, kamen sie in der Öffentlichkeit zum Vorschein, offensichtlich für sie und wahrscheinlich für alle anderen, aber nicht für mich!

 

 

Ich möchte nicht länger die Letzte im Raum sein, die weiß, was ich fühle. Darum fokussiere ich und darum fokussiere ich mit einem Schwerpunkt auf der inneren Beziehung – weil ich die Verbannten einlade, zurückzukommen.

 

 

Man kann keine Gefühle „loswerden“, egal wie sehr etwas in einem das vielleicht will. Man kann sie nur in den Untergrund schicken. In der Verbannung werden Teile von uns wilder, dunkler, einsamer, grausamer. Wenn sie aus der Verbannung zurückkehren oder aus der Verbannung heraus agieren, sind sie kein schöner Anblick. (Für eine metaphorische Illustration siehe „Die Geschichte des Hundes“ in diesem Buch.)

 

 

Lassen Sie uns also den inneren kritisierenden Prozess nicht verbannen! Ihn wegzuschieben macht es nur leichter für andere Menschen, ihn zu sehen, und es stellt ihn außerhalb der Sphäre der Präsenz, wo seine Verwandlung geschehen könnte.

 

 

 

Die Sprache der Präsenz mit einem inneren kritisierenden Prozess

 

 

Die Sprache der Präsenz fängt an mit den Worten „Ich spüre…“ und geht weiter mit „etwas in mir, das…“. Jemand, der sagt „Das ist dumm“, würde dies ändern zu „Ich spüre etwas in mir, das sagt, dass das dumm ist.“

 

 

Die meisten Menschen erleben einen großen Unterschied zwischen diesen beiden Sätzen. (Vielleicht nehmen Sie sich einen Moment Zeit zu bemerken, welchen Unterschied Sie fühlen.) Gewöhnlich bringt der zweite ein Gefühl von mehr Raum, mehr Distanz, ohne die Verbindung zu verlieren, und eine breitere Perspektive. Ich werde daran erinnert, dass ich mehr bin als das, es gibt mehr in mir als das. Es wird möglich, sich dem kritisierenden Teil und auch jedem anderen Teil mit interessierter Neugier zuzuwenden. Es wird möglich, auf diese inneren Teile zu fokussieren.

 

 

Die Sprache der Präsenz erinnert daran, den Freiraum einzunehmen, den uns Präsenz ermöglicht, und sie erinnert daran, dass wir mehr sind als der Kampf in uns. Von diesem Ort des „Mehr-Seins“ aus besteht die Möglichkeit des Wandels.

 

 

 

Die Sprache der Präsenz und ein kritisierender Prozess – Ein Beispiel

 

 

Sam hatte eine Handlungsblockade. Er war bereit, seine geschäftlichen Pläne voranzutreiben, aber irgendwie kam er nicht dazu, Anrufe zu tätigen oder die Broschüre fertig zu stellen. Als er eine Focusing-Sitzung mit mir durchführte, lud er den Teil von sich ein, der sich nicht vorwärts bewegen wollte.

 

 

„Es ist wie eine Spannung in meinem Magen… Na ja, eigentlich fühlt es sich an wie ein Zurückhalten, wie ein richtiges Festhalten… Und da ist auch Furcht… Ich habe Angst loszulassen.“

 

 

Um Sam darin zu unterstützen, Präsenz zu finden, spiegelte ich seine Worte zurück und verwendete dabei die Sprache der Präsenz.

 

 

Ann: „Du spürst etwas in dir, das zurückhält, wirklich festhält, das Angst hat, loszulassen.“

 

Sam: „Ja, es ist ein Teil von mir, der Angst hat, loszulassen. ‚Die Welt ist ein furchteinflößender Ort’, sagt er. Er fühlt sich, wie ich mich selbst als kleines Kind gefühlt habe, als ich zum ersten Mal herausfand, wie rau die Welt sein kann.“

 

Achten Sie darauf, wie Sam die Einladung zur Sprache der Präsenz annahm. Nachdem ich zurückgespiegelt hatte „Du spürst etwas in dir, das... Angst hat, loszulassen“, sagte er: „Ja, es ist ein Teil von mir, der Angst hat, loszulassen.“ Diese Perspektive erlaubte es ihm, tiefer in diesen Teil von sich hineinzufühlen und zu spüren, dass er sich fühlt, wie er sich selbst als kleines Kind gefühlt hat.

 

 

Ann: „Du spürst, dass er sich fühlt wie du als kleines Kind, als du das erste Mal verletzt wurdest.“

 

Sam: „Ich bin manchmal so hart zu mir selbst.“

 

 

Ich war nicht sicher, wie dies zusammenhing mit dem, was Sam zuvor gesagt hatte. Aber Focusing ist manchmal so. Was als Nächstes kommt, steht im Zusammenhang, aber nicht notwendigerweise in einer logischen Reihenfolge.

 

 

Was ich wusste war, dass sein Satz „Ich bin manchmal so hart zu mir selbst“ entpackt werden musste – er war identifiziert mit beiden Seiten eines inneren Kampfes und ich beabsichtigte, ihn zur Präsenz mit diesen Seiten einzuladen.

 

 

Ann: „Du spürst etwas in dir, das hart ist zu etwas anderem in dir.“

 

Sam: „Es ist so, als hätte ich diese Stimme, die sagt: ‚Du musst. Du hast keine Wahl.’ Aber loszulassen fühlt sich an, wie über einem riesigen Abgrund zu stehen.“

 

 

Wieder nahm Sam meine Einladung an, so dass er nun die zwei inneren Streithähne in zwei verschiedenen Sätzen beschreibt, und jeder einzelne wird jetzt als etwas separater von ihm selbst erlebt. Durch das Nächste, was ich sage, möchte ich diese Trennung (und Verbindung) unterstützen.

 

 

Ann: „Du spürst etwas in dir, das loszulassen wahrnimmt, wie über einem riesigen Abgrund zu stehen. Und du spürst etwas in dir, das sagt ‚Du musst’. Und beides ist da." (Siehe „Es aushalten“ in diesem Buch, um mehr zu erfahren über diese Art der Einladung und ihre Begründung.)

 

 

In der verbleibenden Sitzung war Sam in der Lage, mitfühlend jeder dieser Seiten seines Prozesses zuzuhören. Was sich zunächst so verhielt wie ein kritisierender Prozess („Ich bin so hart zu mir.“), entwickelte sich zu einem Teil von ihm, der begierig darauf war, dass er Erfolg hatte. Und der Teil von ihm, der Angst hatte, brauchte denselben Beistand, den wir einem verängstigten Kind geben würden. Als dieser Teil sich aus der Präsenz gehört fühlte, und nicht unter Druck gesetzt oder kritisiert, begann er, sich zu entspannen. Und als der ungeduldige Teil spürte, dass seine Sorgen gehört wurden, fing er ebenfalls an, sich zu entspannen.

 

 

Nichts davon hätte ohne Präsenz geschehen können.

Spüren, wie es sich im Körper anfühlt

 

 

Wir wissen, dass Focusing ein körperorientierter Prozess ist. Aber was das in der Praxis bedeutet, ist offen für Interpretation. (Siehe „Körper? Welcher Körper?“ in diesem Buch.) In der Sitzung, von der wir gerade berichtet haben, hatte Sam eine Spannung im Magen, die zurückhielt und festhielt. Ganz klar ein Körperempfinden. Dieses war jedoch nicht der kritisierende Teil. Der kritisierende Teil zeigte sich für ihn als Stimme. („Es ist so, als habe ich diese Stimme, die sagt: ‚Du musst. Du hast keine Wahl.’“)

 

 

Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, dass ein Teil, der kritisiert, bisher nicht als etwas verstanden worden ist, auf das man fokussieren kann, in das man hineinfühlen kann, weil er oft nicht so klar im Körper lokalisierbar zu sein scheint wie die anderen Teile von uns, diejenigen, die dieser zu kontrollieren oder zu ändern versucht. („Ich habe diesen kalten Fels der Furcht in meinem Magen… Und ich versuche, dass er sich löst… Ich sollte mich nicht so fühlen…“)

 

 

Manchmal wird der kritisierende Teil im Körper erlebt. Ist dies der Fall, wird er oft als ein Zuschnüren, eine Verengung oder als ein Zubinden irgendeiner Art gespürt.

 

 

„Ich habe so viel Wut, ich spüre sie wie eine Hitze und eine Energie, die durch meine Schultern und Arme strömen. Und ich fühle auch dieses Band über meinem Brustkorb. Es fühlt sich kalt und dicht an. Es sagt zu der Wut: ‚Geh weg! Du darfst nicht da sein. Es ist nicht sicher.’“

 

 

Wenn wir auf fokussierende Art und Weise bei kritisierenden Teilen verweilen, müssen wir offen sein für jede Modalität, die diese eventuell wählen, um ihre Anwesenheit mitzuteilen. Stimmen (auditorisch) und Bilder (visuell) sind genauso wahrscheinlich, wenn nicht sogar wahrscheinlicher, als Körperempfindungen (kinästhetisch). Erleben wir diese Teile als Stimmen oder Bilder, müssen wir uns, wie immer, unserer Körpermitte bewusst bleiben, so dass dieses Erleben im Bewusstsein des gegenwärtigen Momentes verankert bleibt.

 

 

 

Ein Teil, der kritisiert, hat in Wirklichkeit Angst

 

 

Als ich anfangs damit experimentierte, meine Focusing-Klienten dazu einzuladen, ihren kritisierenden inneren Teilen Mitgefühl entgegenzubringen, begegnete ich einer interessanten Art des Widerstandes. Die Leute wollten nicht mitfühlend sein, weil es ihnen so vorkam, als sei dieser Teil von ihnen „gemein“, „grausam“ oder „wütend“. „Er will mich verletzen“, berichteten sie. „Wie kann ich für so etwas Mitgefühl haben?“ Aus meiner Erfahrung mit Marshall Rosenbergs Gewaltfreier Kommunikation wusste ich, dass ein Mensch, der sich so verhält, wie sich jene inneren Teile verhielten, verstanden werden kann als jemand, der versucht, legitime Bedürfnisse zu erfüllen. (Auf Wegen, würde Rosenberg sagen, die „tragisch ungeeignet sind, Erfolg zu haben.“) Ich fragte mich, wie man das Verhalten dieser inneren kritisierenden Teile auf eine Art nachvollziehen konnte, die das mitfühlende Verstehen des Fokussierenden wachrufen würde. Wie konnten wir verstehen, was vor sich ging, wenn wir es von seinem Standpunkt aus betrachteten? Und es lief immer auf Folgendes hinaus: Der furchterregende Kritiker hatte Angst. Er attackierte so heftig, weil er so viel Angst davor hatte, dass etwas schief gehen würde, dass etwas nicht in Ordnung gebracht würde, dass andere Menschen kritisch reagieren würden usw.

 

 

Ich fing an, mich zu fragen: Was, wenn alle kritisierenden inneren Teile in Wirklichkeit Angst haben?

 

 

Gewöhnlich fühlen sie sich nicht ängstlich an oder sehen ängstlich aus oder klingen ängstlich. Sie klingen ärgerlich oder autoritär, sehr selbstsicher, sicher, dass man im Unrecht ist und sie selbst im Recht. Aber was, wenn sie in Wirklichkeit tief im Inneren umso ängstlicher sind, je sicherer und autoritärer sie klingen?

 

 

Ich erinnerte mich an eine Zeit in meinen Zwanzigern, als ich in Chicago lebte und meine Mitbewohnerin und ich unsere Wohnung strichen. Eine klapperige Leiter stand im Flur und Leones trottelige Katze Frostbite entschloss sich, auf die Ablage für die Farbe zu springen. Leiter, Katze und alles Übrige krachten auf den Boden und ein unirdisches Jaulen ertönte. Wir rannten herüber. Der arme Frostbite hatte sich mit dem Schwanz in der Leiter verfangen. Ich näherte mich ihm, um ihn loszumachen, aber anstatt mich willkommen zu heißen, griff er mich an. Aua! Was für eine Dankbarkeit! Aber es dauerte nicht lange, bis ich ihm verzieh. Natürlich griff er mich an. Er war verstört, panisch, saß in der Falle und war verzweifelt. Ich musste nur die Verzweiflung statt des Angriffs sehen und mein Mitgefühl wurde ohne Probleme geweckt, trotz der Krallenspuren an meiner Hand.

 

 

Dasselbe galt auch für den inneren kritisierenden Prozess. Wenn ich einem Fokussierenden helfen wollte, Mitgefühl für einen Teil von ihm zu haben, der kritisch war, musste ich ihn einladen zu überlegen, ob der kritisierende Teil vielleicht Angst hatte. Das funktionierte immer. Es funktionierte tatsächlich so verlässlich, dass ich mich mit der Zeit fragte, ob hier nicht vielleicht eine universelle Gesetzmäßigkeit zugrunde lag. Schließlich vermochte Barbara McGavin mir zu zeigen, dass ein Teil von uns, der kritisiert, ein Teil ist, der kontrollieren muss, und dass Angst und das Verlangen zu kontrollieren zwei Seiten derselben Medaille sind.

 

 

Der Teil, der kritisiert, gibt oft nicht gerne zu, dass er Angst hat. Dies zu tun würde seine Verletzlichkeit zeigen und natürlich will er das nicht. Es gibt jedoch eine große Anzahl an Synonymen für Angst: von Panik und Schrecken an einem Ende der Skala bis zu Sorgen und Bedenken am anderen Ende. Ein Teil, der kontrolliert/ kritisiert, ist oft bereit zuzugeben, dass er sich Sorgen macht oder Bedenken hat. Und wenn er sagt, dass er besorgt ist, dann ist das schon ein riesiger Unterschied im Vergleich zu seinen Angriffen.

Der verängstigte kritisierende Prozess – Ein Beispiel

 

 

Hier ist ein Auszug aus einer Sitzung, in der eine Frau mit einer chronischen Krankheit zutiefst ehrlich zu sich selbst war bezüglich dessen, was die Krankheit ihr mitteilte, und dies rief einen kritisierenden Prozess hervor. Nachdem sie eine Weile damit verbracht hatte, mit dem körperlichen Gefühl ihrer Symptome in Verbindung zu treten und dabei die Sprache der Präsenz verwendete („Ich spüre… etwas in mir…“), um sich daran zu erinnern, bei dem Gefühl zu sein und nicht in dem Gefühl, antwortete sie Folgendes:

 

 

„Ich spüre diesen Teil von mir, der sich nicht sicher ist, ob er möchte, dass ich gesund werde. Er hat Angst, dass ich alles, was ich in dieser Zeit gelernt habe, vergesse, wenn ich gesund werde. Ein anderer Teil sagt, ich sollte mich nicht so fühlen, das ist schlecht. Meine Symptome sagen mir: ‚Wenn wir weggehen, wirst du wieder unbewusst.’ Etwas in mir denkt, dass es mir schlecht gehen muss oder dass ich krank sein muss, um ein gesundes Leben zu führen. Und etwas in mir hat Angst, wenn es das hört.

 

 

Beachten Sie bei diesen sechs Sätzen, dass die Frau etwas von zwei Teilen von sich hört. Ich habe diejenigen Sätze kursiv gesetzt, die wiedergeben, was der „kritisierende Teil“ sagt und fühlt. Er fängt damit an, dass er sagt, dass der andere Teil von ihr nicht so fühlen „sollte“, wie er fühlt. Das ist die bekannte kritische Stimme: verurteilend durch den Gebrauch von „sollte“. Ein paar Sätze später bemerkt sie jedoch, dass dieser Teil von ihr Angst hat. Wir können diesem verängstigten Teil Empathie entgegen bringen. Natürlich! Es kann beängstigend sein zu merken, dass es einen Teil gibt, der die schmerzhaften Symptome, die man verspürt, will. Kein Wunder, dass dieser verängstigte Teil sich fürchtet und versucht, dieses Erleben auf die einzige Art und Weise zu stoppen, die er kennt: durch Verurteilung und Anklage.

 

 

Obwohl uns (aus der Präsenz) bewusst ist, dass der schnellste Weg, etwas zu ermöglichen, sich zu verwandeln, darin besteht, genau zu hören, was da ist – und es gibt nichts, wovor man Angst haben muss, wenn man hört, wie etwas ist, weil es schon so ist – gibt es oft einen Teil, wie in diesem Fall, der Angst hat, es zu hören, der nicht will, dass es wahr ist. Ein Teil von uns, der versucht, einen anderen Teil zu unterdrücken, verhält sich oft kritisch. Aber sein Fühlen besteht aus Sorge und Furcht. Und das ist wichtig: die Unterscheidung zu treffen zwischen den Handlungen, die ein Teil von uns vornimmt oder zu denen er einen anderen Teil nötigen will, und dem Fühlen, das seinem Verhalten zugrunde liegt. Wenn wir uns in das Verhalten und die Handlungen verstricken lassen, dann werden wir in eine kriegsähnliche Auseinandersetzung verwickelt. Wenn wir aber hinter den Handlungen das Fühlen aufspüren können, das diese Handlungen antreibt, dann sind wir der Möglichkeit einer Verwandlung viel näher.

 

 

 

Empathie mit der Angst

 

 

Sobald wir uns einmal auf mitfühlende Weise der Angst (Sorge, Bedenken) in diesem Teil von uns bewusst sind, können wir ihm Empathie entgegenbringen für das, wovor er Angst hat. Empathie kann oft mit Hilfe von Wörtern wie „kein Wunder“ und „natürlich“ ausgedrückt werden. Diese Art zu sprechen hilft dabei, eine verständnisvolle Einstellung dafür, wie es sich von seinem Standpunkt aus fühlt, zu vermitteln.

 

 

Ein Mann, der gerade anfing, als Meditationslehrer zu arbeiten, fokussierte zu einem schwierigen Bereich in seinem Leben. Plötzlich berichtete er: „Dieser Teil von mir sagt: ‚Du hast nicht die Qualifikation, Meditationslehrer zu sein, weil du so durch den Wind bist.’“ Wir hatten oft an dem kritisierenden Prozess gearbeitet, also sagte ich nur: „Wow, der muss wirklich Angst vor irgendetwas haben!“ Er spürte in ihn hinein mit der Vermutung, dass er möglicherweise Angst hatte, und berichtete: „Oh… Er glaubt, ich muss mich so präsentieren, als hätte ich selbst keine Probleme, wenn ich unterrichte.“

 

 

Ich schlug vor, dass er voller Empathie zu ihm sagen sollte: „Kein Wunder, dass du dich ängstlich oder besorgt fühlst, wenn du glaubst, dass ich selbst keine Probleme haben darf, wenn ich unterrichte.“

 

 

Ich sah, wie sich sein Körper entspannte, noch bevor er berichtete: „Ich fühle eine große Erleichterung in meinem ganzen Magen und Unterleib. Eine große Verspannung dort hat sich gerade gelöst.“

 

 

Bemerken Sie, wie der Satz, der mit „kein Wunder“ anfängt, warm und empathisch ist, ohne in irgendeiner Weise der begrenzenden Auffassung, die dieser Teil vertritt, zuzustimmen. Er erkennt die Gefühle an („ängstlich und besorgt“) und ihre Verbindung mit der Auffassung („wenn du glaubst“), ohne die Auffassung selbst zu bestätigen. Dies führt häufig zu einer Lockerung, einem Freiwerden, um die Auffassung herum, was oft als körperliche Befreiung erlebt wird.

 

 

 

Das Nicht-Wollen

 

 

Es gibt etwas, das der Teil von uns, der jetzt gerade kritisiert, nicht will. Und, paradoxerweise, will er oft genau das nicht, was er vorhersagt. Er sagt „Du wirst versagen“ oder „Du bist ein Versager“ und zu versagen, wie sich zeigt, ist genau das, was er nicht für uns will.

 

 

Das erscheint möglicherweise frustrierend unlogisch, aber es ist tatsächlich ein ganz natürlicher menschlicher Prozess. Stellen Sie sich einmal Eltern vor, die einem Kind zurufen, das zur Winterzeit gerade dabei ist, zur Tür hinauszugehen: „Du holst dir noch den Tod!“ Warum sollten Eltern prophezeien, dass ein Kind sterben wird? Ganz offensichtlich wollen die Eltern, dass das Kind etwas macht, vielleicht, dass es sich wärmere Kleidung anzieht. Die Aussage ist also eigentlich keine Vorhersage des Todes. Sie ist eigentlich eine Bitte, der der Ausdruck starker Gefühle anhaftet: „Bitte zieh wärmere Kleidung an! Ich mache mir solche Sorgen um dich!“ Aus dieser Perspektive verstehen wir, dass „Du holst dir noch den Tod“ in Wahrheit der Ausdruck dessen ist, was nicht gewollt ist.

 

 

Es ist möglich, dass jedes Mal, wenn unsere inneren kritisierenden Teile unseren Untergang oder unser Scheitern vorhersagen, sie eigentlich davon sprechen, was sie nicht wollen! Was für ein Gedanke!

 

 

Es kann einen sehr kraftvollen Wandlungsprozess hervorrufen, einen kritisierenden Teil einzuladen zu enthüllen, was er nicht will. Es hilft ganz besonders, wie Barbara McGavin und ich herausgefunden haben, ihn einzuladen, uns wissen zu lassen, was uns nicht zustoßen soll. Das klingt so: „Ich lade ihn ein, mich wissen zu lassen, was mir nicht zustoßen soll.“ So formuliert bestätigt die Einladung die beschützende Natur dieses Teiles von uns und daher ist sie ihm wahrscheinlich willkommen.

 

 

Wenn Sie zunächst mit dem angstähnlichen Gefühl des kritisierenden Teils (Angst, Sorge, Bedenken) in Verbindung treten, ist es selten schwer für diesen, Sie wissen zu lassen, was er nicht will, dass es Ihnen zustößt. Ohne diese gefühlsmäßige Verbindung kann dieser Schritt schwieriger werden, manchmal sogar unmöglich. Sein (angstähnliches) Gefühl zu spüren, ist ein Schlüsselschritt. Dann kommt das Spüren, was er nicht will.

Das Nicht-Wollen: Ein Beispiel

 

 

Thea fokussierte auf einen Aspekt ihrer selbst, den sie „widerwillig“ nannte. Er hatte einen schroffen Ton und wenn sie mit ihm in Verbindung trat, hörte sie: „Du wirst nie etwas erreichen. Gib auf.“ Er fühlte sich nicht ängstlich an und anfangs fand sie es schwer, sich vorzustellen, dass er Angst haben könnte, aber sie entschied sich, es versuchsweise einmal anzunehmen, dass ein kritisierender Teil Angst hat, um herauszufinden, was geschehen würde.

 

 

Sie spürte in ihren Körper hinein und sah eine dunkle, lauernde Figur, die finster blickend in einer Ecke stand. „Ich frage mich, ob du besorgt bist oder irgendwelche Bedenken hast“, bot sie ihr an. Da war ein kleines Gefühl der Zustimmung, nicht viel, sondern nur ein kleines bisschen. Sie fragte die Figur voller Empathie für das, was sie vielleicht durchzumachen hatte: „Ich frage mich, was du möglicherweise nicht willst, dass es mir zustößt.“ Bilder und Worte begannen zu fließen: missbraucht, bestraft, entehrt… „Bestraft“ fühlte sich wie der Schlüssel an. Sie ließ die Figur wissen, dass sie sie gehört hatte: „Ich höre wirklich, dass du nicht willst, dass ich bestraft werde.“

 

 

Da war ein schwaches Gefühl der Erleichterung… und sie entschloss sich, Empathie anzubieten. „Kein Wunder, dass du besorgt bist“, sagte sie, „wenn du willst, dass ich nicht bestraft werde.“ Das führte zu einer Erleichterung in der Weise, wie dieser innere Ort sich anfühlte, und zu einer Entspannung. Thea vermochte dabei zu bleiben und mehr zu spüren.

 

 

 

Das Wollen

 

 

Genau unter dem Nicht-Wollen liegt das Wollen, das, was dieser Teil möchte, dass man es erlebt oder fühlt. Das Gute an kritisierenden Teilen ist, dass ihr Wollen gewöhnlich recht leicht zugänglich ist, wenn das Nicht-Wollen gehört wurde. (Weiter unten, im Abschnitt „Scharfe innere Kritik“, werden wir über eine Ausnahme sprechen.) Und sobald ein Teil bereit ist, dem Fokussierenden mitzuteilen, was er will, hört er sich selten noch kritisch an. Oft fühlt er sich an wie ein besorgter Beschützer. Das ist ein weiterer Grund dafür, den Begriff „Kritiker“ fallen zu lassen, den Teil nach der Art und Weise zu benennen, wie er sich verhält, und seine Beschreibung in dem Maße zu ändern, wie sich sein Verhalten ändert.

 

 

Lassen Sie uns das gerade genannte Beispiel von Thea weiter verfolgen, hin zum Wollen. Indem sie mit einem Teil in ihr, der kritisiert, in Kontakt bleibt, und dadurch, dass sie spürt, dass er nicht will, dass sie bestraft wird, fühlt Thea eine Erleichterung, sobald sie dies anerkennt. Sie nimmt sich etwas Zeit und fühlt eine Bereitschaft in diesem Teil zu erlauben, dass in sein Wollen hineingespürt wird. Sie hat immer noch das Bild, bestraft zu werden, was nicht gewollt wird, und nun schiebt sich ein anderes Bild über dieses, ein... „umhüllt von Stolz“ sind die Worte. „Es möchte, dass ich von Stolz umhüllt bin“, berichtet Thea.

 

 

Theas Focusing-Partner lädt sie ein zu spüren, was dieser Teil möchte, dass sie es fühlt, wenn sie von Stolz umhüllt ist. Mit dem Gefühl des Wollens in Kontakt zu treten ist/ erzeugt eine tiefe Ebene des Bewusstseins, die sehr verändernd sein kann. Thea lädt ein Körpergespür dafür ein, was dieser Teil möchte, dass sie es fühlt, wenn sie von Stolz umhüllt ist. Es kommt ein körperliches Gefühl von warm… beschützt… verbunden… Es fühlt sich zutiefst befriedigend an, dies zu spüren, und Thea bleibt eine ganze Weile dabei.

 

 

Ja, das ist derselbe Teil, den Thea zunächst antraf und der sagte: „Du wirst nie etwas erreichen. Gib auf!“ Wie bei den Eltern, die sagen „Du holst dir noch den Tod“, obwohl sie meinen „Ich mache mir Sorgen um dich. Ich möchte, dass du sicher bist“, ist genau der Teil von uns, der anzugreifen scheint, in Wirklichkeit ein helfender Beschützer. Er muss jedoch durch einen Prozess geführt werden, der seiner beschützenden Seite erlaubt, zum Vorschein zu kommen.

 

 

 

Zusammenfassung des bisherigen Prozesses:

 

 

(1) Sich bewusst werden, dass ein innerer kritisierender Prozess vor sich geht

 

(2) In Präsenz kommen mit allen Aspekten des Erlebens, einschließlich des inneren kritisierenden Prozesses

 

(3) Bemerken, wie sich der innere kritisierende Prozess im Körper anfühlt oder wie er sich zeigt, als Gefühl, Stimme, Bild

 

(4) Spüren, ob er vielleicht Angst hat oder irgendeine Form von Angst, wie etwa Sorge oder Bedenken

 

(5) Ihn einladen, mich wissen zu lassen, wovon er nicht will, dass es mir geschieht

 

(6) Ihn einladen, mich wissen zu lassen, wovon er will, dass ich es erlebe oder fühle

 

 

 

Der Kritiker und der Kritisierte

 

 

Bei den folgenden Beispielen lade ich Sie ein, sich zu fragen, wer dieses „Ich“ ist, mit dem der Sprecher identifiziert ist. Ist es Präsenz? Ist es der kritisierende Teil? Und, wenn keins von beidem, wer dann?

 

 

„Ich fühle mich schlecht, weil ich mein Leben verpfusche.“

 

„Mein Innerer Kritiker ist groß und ich bin so klein.“

 

„Eine kritische Stimme nennt mich ‚dumm’ und das fühlt sich wahr an.“

 

„Eine kritische Stimme nennt mich ‚dumm’ und ich sage ihr, sie soll die Klappe halten und da weggehen.“

 

„Das ist mir peinlich.“

 

 

Bei all dem, was wir über den Teil, der kritisiert, gesagt haben, haben wir eine andere Schlüsselfigur in dem Drama ignoriert – den Teil von uns, der kritisiert wird. Wenn ich mich mit Präsenz identifiziere, dem Zustand, bei allem, was hochkommt, sein zu können, dann ist klar, dass ich nicht derjenige bin, der kritisiert wird. Robert de Niros Charakter im Film Taxi Driver sagt: „Redest du mit mir? Redest du mit MIR?“ Mit wem redet der kritisierende Teil? Wen kritisiert er? Mich?

 

 

Wenn ich in Präsenz bin, fühle ich mich nicht kritisiert.

 

 

Wenn es also ein Erleben gibt, von einem kritisierenden Teil von mir kritisiert zu werden, dann muss es auch einen anderen Teil von mir geben, der ebenfalls Beachtung braucht, der sich kritisiert fühlt und der Gefühle deswegen empfindet, Ärger, Rebellion, Schuld, peinliches Berührtsein, Scham.

 

 

Wir können identifiziert sein mit dem kritisierenden Teil, wie in „Das ist dumm“, oder wir können identifiziert sein mit dem kritisierten Teil, wie in „Ich fühle mich unangemessen“. Wir können identifiziert sein mit dem kritisierenden Teil und doch ein gewisses Bewusstsein für das haben, was geschieht, wie in „Ein kritisierender Teil ist aufgetaucht und sagt mir, dass ich damit nie etwas erreichen werde.“ Selten befinden wir uns in Präsenz mit diesem kritisierenden Prozess. Wenn wir es wären, könnten wir etwa das Folgende sagen:

 

 

„Ich spüre etwas in mir, das diesen anderen Teil von mir kritisch sieht und ich spüre ebenfalls den Teil von mir, der sich kritisiert fühlt.“

 

 

In Präsenz zu kommen ist der erste und der wichtigste Schritt, um die Verkeilung von Kritiker und Kritisiertem zu lösen. Um Präsenz zu finden, wenn „Sie“ unter Angriff stehen, erinnern Sie sich daran, dass Sie nicht das Ziel sind, Sie sind nicht der, der kritisiert wird. Etwas in Ihnen wird von etwas in Ihnen kritisiert.

 

 

Der Teil, der sich kritisiert fühlt, kann reagierender Teil genannt werden. Barbara McGavin und ich haben drei Erscheinungsformen identifiziert, die dieser reagierende Teil von Zeit zu Zeit annimmt.

 

 

(1) Zusammenbruch. Dies ist eine innere Einstellung, die sagt: „Du hast Recht. Ich bin so schlecht und ich fühle mich so schlecht deswegen.“ Das ist möglicherweise ein schwer zu entdeckender Teil, wenn wir mit ihm identifiziert sind. Er kann sich anfühlen wie die Wahrheit, wie die einfache Wahrheit. Das unangenehm hohle Gefühl im Magen (oder irgendein anderes unangenehmes Körpergefühl) fühlt sich vielleicht genau wie das an, was ich verdiene. Barbara McGavin und ich nannten diesen Teil früher „das Opfer des Kritikers“, bevor wir entschieden, dass das Wort „Opfer“ selbst ein zu stark herabwürdigendes Etikett darstellt. Manchmal bezeichnet „Opfer“ aber genau das, wie dieser Teil sich anfühlt, sogar sich selbst gegenüber.

 

 

Das gefühlte Erleben von Scham ist das Territorium von jenem zusammenbrechenden, reagierenden Teil. Wenn etwas in mir beschämt ist, dann gibt es ganz sicher einen anderen Teil von mir, der ihn anklagt. Dasselbe gilt für Schuldgefühle und peinliches Berührtsein. „Ich fühle mich schuldig“ kann in der Sprache der Präsenz werden zu „Etwas in mir fühlt sich schuldig und etwas in mir sagt, dass es sich schuldig fühlen soll“. Dadurch werden wir in die Lage versetzt, jeden einzelnen zu hören und in das Nicht-Wollen und das Wollen hineinzuspüren.

 

 

(2) Rebellion. Der reagierende Teil sagt: „Bin ich NICHT!“ oder „Werde ich nicht und du kannst mich nicht zwingen!“ Er besitzt häufig die Qualität eines dickköpfigen Jugendlichen. Tatsächlich ist die Beziehung des reagierenden Teils zu dem kritisierenden Teil oft wie die Beziehung eines Jugendlichen zu seinen Eltern, mit all der Komödie und all dem Drama, welches das nach sich zieht.

 

 

Der kritisierende Teil kontrolliert, treibt an, bevormundet (natürlich, wie wir gesehen haben, aus seinen eigenen guten Gründen). Der reagierende Teil ist etwas in uns, das es nicht mag, kontrolliert, angetrieben oder bevormundet zu werden. (Und wer würde das schon?) Wenn die beiden aneinander geraten, fliegen die Funken... und der Körper ist das Schlachtfeld.

 

 

(3) Flucht. Wenn es sich angegriffen fühlt, antwortet etwas in uns vielleicht dadurch, dass es davonläuft, flieht. Im Erleben könnte dies bedeuten, dass man einen Blackout hat, dass man etwas vergisst, verwirrt ist, einschläft usw. Im Verhalten könnte sich dieser fliehende, reagierende Teil zeigen, indem er sich dem hingibt, was wir „Realitätsflucht“ nennen: Fernsehen, Computerspiele spielen, zu viele Snacks essen usw.

 

 

Ein Anzeichen dafür, dass Sie möglicherweise mit dem reagierenden Teil identifiziert sind, ist, wenn Sie es schwer finden, die Furcht, Sorge, Bedenken im kritisierenden Teil zu spüren. Wenn Sie es schwer finden, sich vorzustellen oder zu fühlen, dass dieser kritisierende Teil von Ihnen etwas anderes ist als verärgert, grob, gemein, wenn er im Vergleich zu Ihnen wirklich groß erscheint, wenn es schwer ist, überhaupt Empathie für ihn zu empfinden, dann ist dies ein sehr verlässliches Zeichen, dass Sie tatsächlich identifiziert sind mit dem Empfänger der Kritik. Sie fühlen, dass er Sie kritisiert. Das bedeutet, dass Sie nicht in der Präsenz sind, was gute Neuigkeiten darstellt, denn sobald Sie wieder in Präsenz gehen, wird sich alles viel besser anfühlen!

 

 

In Präsenz zu sein ermöglicht es dem Fokussierenden, bei beiden zu sein, dem Teil, der kritisiert, und dem Teil, der auf die Kritik reagiert. Jede Seite wird eine emotionale Qualität aufweisen, ein Nicht-Wollen und ein Wollen, welche, jede zu ihrer Zeit, im Körper gespürt, anerkannt und gehört werden will. Auf diesem Weg liegt die Heilung.

Scharfe innere Kritik

 

 

Manches Erleben innerer Kritik ist besonders schwer zu verstehen mit der wohlwollenden Analogie der besorgten Eltern, die etwas vorhersagen, von dem sie nicht wollen, dass es ihrem geliebten Kind zustößt. „Es hasst mich.“ „Es möchte, dass ich sterbe.“ „Es ist so bestialisch, es möchte mich auseinanderreißen.“ Selbstverständlich müssen wir die Aufhebung der Identifizierung mit dem „Ich“ in diesen Aussagen fördern. Wie können wir jedoch die Heftigkeit dieses scheinbar inneren Hasses verstehen?

 

 

In unserer Arbeit, die wir „Treasure Maps to the Soul“ nennen, haben Barbara McGavin und ich gelernt, dass die Natur des Traumas zu dieser Form eines unerbittlichen kritisierenden Prozesses führen kann. Einfach ausgedrückt: Wenn überwältigende innere oder äußere furchteinflößende oder schmerzliche Ereignisse zu einem Zeitpunkt geschehen, an dem keine Ressourcen zur Verfügung stehen, mit ihnen umzugehen, friert der Prozess ein, unbearbeitet, und er wird verkapselt zu einem Teil, der dann vom Bewusstsein verbannt wird. Verschiedene andere Teile übernehmen die Aufgabe, dieses sogenannte gefährliche emotionale Material aus dem Bewusstsein fern zu halten.

 

 

Es gibt also zwei Haupttypen des inneren kritisierenden Prozesses oder zwei Enden eines Kontinuums, je nachdem, wie schwer das Trauma ist oder wie viel Angst im System vorhanden ist vor dem, womit Verbindung aufgenommen oder was gefühlt werden könnte. Am leichteren, weniger strengen Ende der Skala haben wir einen inneren kritisierenden Prozess, der eher als beschützend gefühlt wird, der ohne viel Aufsehen enthüllt, was er für uns will. Am schwereren Ende der Skala haben wir einen raueren kritisierenden Teil, der angetrieben wird durch eine tiefe Furcht vor dem, was vielleicht die Erlaubnis bekommen könnte, gefühlt zu werden, wenn er seine Arbeit nicht erledigt. In diesem Fall ist das Nicht-Wollen komplexer: Wir haben das Nicht-Wollen des kritisierenden Teils, was sich auf etwas bezieht, das nicht gefühlt werden soll, und wir haben das nicht gewollte Gefühl, von dem er nicht möchte, dass es gefühlt wird. Letztlich müssen beide auf körperlich gefühlte Weise kontaktiert werden, es ist jedoch kontraproduktiv, den Prozess erzwingen zu wollen, da es zu einer Re-Traumatisierung kommen kann. Gehen Sie langsam vor und respektieren Sie innere Signale von Teilen, die aufhören und später zu dem Prozess zurückkehren wollen.

 

 

 

Scharfe innere Kritik – Ein Beispiel

 

 

George erzählte, dass er schon die ganze Woche eine harte innere Stimme hörte, die zu ihm sagte: „Du dummes Stück Scheiße! Du bekommst auch gar nichts auf die Reihe! Kannst du das nicht besser? Du bist so schwach!“

 

 

Er war entschlossen gewesen, eine Situation herumzureißen, in welcher eine Verkaufsaktion nicht besonders gut lief, indem er eine gut formulierte Email an eine sorgfältig ausgewählte Mailliste von Schlüsselpersonen geschrieben hatte. Er war stolz auf sich, dass er die Initiative ergriffen hatte. Dann aber kam keine Reaktion auf seine Email. Sobald ihm das klar wurde, fing die innere Attacke an.

 

 

Als George diesen inneren Angreifer anerkannte und ihm Aufmerksamkeit schenkte, spürte er ihn als eine „Drachen-Kreatur“ mit großen Flügeln, deren Emotion Ärger war. „Sie ist wütend auf mich!“ Ich lud ihn ein zu spüren, was sie so wütend machte. „Sie ist wütend, dass ich es gewagt habe zu glauben, dass ich voller Kraft sein könnte. Sie möchte nicht, dass ich kraftvoll bin.“ Es war jedoch nicht Georges kraftvolle Initiative, die den Drachen verärgerte, sondern die Tatsache, dass sie nicht funktioniert hatte. „Es gab kein Problem, während ich die Email schrieb und sie wegschickte. Erst nachdem es nicht funktionierte, habe ich angefangen zu hören, was ich für ein dummer Idiot bin.“

 

 

Für irgendeinen Teil von George war es unerträglich, dass er kraftvolle Handlungen unternahm, die zurückgewiesen wurden. „Es ist so, als könnte ich diese Leute flüstern hören: ‚Was glaubt der denn, wer er ist, wenn er denkt, dass wichtige Leute wie wir auf seine alberne kleine Email antworten würden?’“ Als er dem Gespür für das Ganze in seinem Körper Gesellschaft leistete, stieg eine Erinnerung auf aus der Zeit an der Junior High School: Er hatte in das Jahrbuch eines sehr beliebten Mädchens geschrieben, dass er sie mochte. Später kam sie zu ihm und beleidigte ihn erbarmungslos vor ihren Freundinnen. „Sie müssen sie mit dem, was ich geschrieben hatte, aufgezogen haben“, sagt er jetzt. Damals war es niederschmetternd.

 

 

George leistet jetzt dem Körpergefühl der Erinnerung an jene Zurückweisung Gesellschaft. Zu dieser Erinnerung kommen viele weitere Zurückweisungen aus anderen Zeiten. Er bleibt bei dem Körpergefühl, während diese Erinnerungen kommen und bekommt eine Art innere Erlaubnis, so viel zu fühlen, wie er fühlt. „Es ist wie ein Schlag in den Magen“, sagt er. „Nein… es ist so wie nach einem Schlag. Wie Übelkeit und nicht genug Luft.“ Er bleibt bei dem Gefühl und erkennt es an.

 

 

„Das ist das, von dem der Drache nicht wollte, dass ich es fühle“, sagt George. Er heißt beides willkommen: Das Gefühl selbst, genau wie es jetzt gerade ist, und etwas in ihm, das nicht will, dass er das fühlen muss. Langsam wächst ein Gefühl des Friedens in ihm. „Es ist nicht so schlimm“, sagt er. „Ich hatte Angst, es würde schlimmer sein.“

 

 

„Ja“, spiegele ich zurück, „etwas in dir hatte Angst, dass es schlimmer sein würde.“

 

 

 

Richard Schwartz’ Manager und der Kontrolleur in den „Treasure Maps“

 

 

Unser Konzept des kritisierenden Prozesses steht dem Konzept des „Managers“ in Richard Schwartz’ sorgfältig ausgearbeiteter Systemischen Therapie mit der inneren Familie sehr nahe. Ein Manager „neigt dazu, sich äußerst schützend […] zu verhalten, und ist daran interessiert, die Umgebung zu kontrollieren, um möglichst viel Sicherheit aufrechtzuerhalten“ (Die Systemische Therapie mit der inneren Familie, S. 79). Manager-Teile können perfektionistische, strebsame Karrieretypen sein oder beißend kritische Auftraggeber, Sorgenträger, Wächter… „Dabei muss man in Erinnerung behalten, dass es die Hauptabsicht aller Manager ist, […] die gefürchteten Gefühle und Gedanken daran zu hindern, über die innere Mauer nach außen zu dringen, sodass das System sicher bleibt und die Person im Leben funktionieren kann“ (S. 83).

 

 

In den „Treasure Maps to the Soul“ nennen Barbara McGavin und ich den kritischen Teil, der in diesem Artikel beschrieben wird, einen „Kontrolleur“, weil er möglicherweise kritisiert oder vielleicht auch nicht, er wünscht sich jedoch immer verzweifelt innere Kontrolle. Es steckt wesentlich mehr in der Systemischen Therapie mit der inneren Familie und in den „Treasure Maps to the Soul“, als in diesem kurzen Artikel beschrieben werden kann, die Hauptunterschiede liegen jedoch in der Art, wie mit Teilen gearbeitet wird: „Treasure Maps to the Soul“, als auf Focusing basierende Methode, verwendet den Kontakt zum körperlichen Felt Sense als zentralen Teil des Wandlungsprozesses; in der Systemischen Therapie mit der inneren Familie wird das Körpergespür als Anker genutzt und Wandel kommt auf andere Weise.

 

 

 

Ein kurzer Ausblick auf die Möglichkeiten

 

 

Früher wich ich aus, wenn jemand bei einem Workshop, sagen wir, eine Beschwerde oder Unzufriedenheit äußerte. Als friedliebende Neun (auf dem Enneagramm) wollte ich um jeden Preis Konflikte vermeiden. Ärger war die furchteinflößenste Emotion, auf die ich stoßen konnte. Nun wende ich mich voller Freude verärgerten Beschwerden zu. Es ist aufregend, die wirkliche Person kennen zu lernen, die den Ärger fühlt, und herauszufinden, was die Bedürfnisse dieser Person sind. Das Fokussieren auf meine eigenen inneren kritisierenden Teile ist verantwortlich dafür, dass sich dies geändert hat.

 

 

Es ist möglich, sich einen Zustand vorzustellen, in dem wir nicht kritisiert werden können, weder von innen noch von außen. Ich rede nicht davon, sich vor Informationen oder Feedback zu verschließen. Wir wären offen, Informationen zu empfangen und Feedback aufzunehmen und Veränderungen durchzuführen. Nichts von dem würde uns jedoch veranlassen, uns schlecht zu fühlen wegen unserer selbst, unserer Essenz, dem, wer wir wirklich sind.

 

 

Wenn Sie sich einen solchen Zustand nicht vorstellen können, sind Sie nicht alleine. Viele Menschen, die durch innere Kritik gepeinigt werden, finden es schwer, sich eine Zeit vorzustellen, in der sie wirklich frei davon sind. Quälen Sie sich nicht. Diese schöne neue Welt ist nichts, in das wir unseren Weg hineindenken können. Sie ist das Ergebnis eines Prozesses. Focusing zu betreiben, wie es in diesem Artikel beschrieben wird, sich den inneren kritisierenden Teilen jedes Mal, wenn sie aufsteigen, verständnisvoll zuzuwenden und, sobald diese bereit sind, ein Gespür einzuladen für das, was sie nicht wollen und für das, was sie wollen, wird dauerhaften und tiefen Wandel bringen.

Literaturverzeichnis:

Brenner, H.: I Know I’m in There Somewhere. Gotham Books, New York 2003.

Gendlin, E.T.: A Process Model. Veröffentlicht durch das Focusing Institute: www.focusing.org.

Rosenberg, M. B.: Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens. Junfermann, Paderborn 20076.

Schwartz, R.C.: Systemische Therapie mit der inneren Familie. Pfeiffer, München 1997.

bottom of page