Wenn wir selbst fokussieren oder die Focusing-Prozesse anderer Menschen begleiten, bewerten und beurteilen wir nicht, was im Prozess geschieht oder sich zeigt. Wenn wir spüren, dass in uns Bewertungen oder Beurteilungen aufsteigen, dann machen wir sie zu einem Teil unseres Prozesses, indem wir beispielsweise sagen:
"Ich spüre etwas in mir, dass etwas in mir kritisiert/verachtet/weg haben/anders haben will etc."
Anschließend wenden wir uns dem zu, was bewertet oder beurteilt, um nachzuspüren, was es antreibt.
Einige von uns üben jedoch Berufe aus, in denen wir gezwungen sind, dienstliche Beurteilungen abzugeben oder Menschen und ihre Leistungen in irgendeiner Form zu bewerten.
Da ich selbst nicht nur Focusing-Trainer bin, sondern auch Lehrer im staatlichen Schulsystem, gilt das für mich ganz besonders. Ständig muss ich Klassenarbeiten korrigieren, Abiturprüfungen abhalten, Zeugnisnoten geben etc. Wie lässt sich das mit der oben beschriebenen Focusing-Haltung, die mir inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen ist, vereinbaren?
Die Wahrheit ist, dass mir das lange Zeit sehr schwer gefallen ist und auch heute noch würde ich lieber keine Zensuren geben müssen. Da aber nun einmal genau das von mir verlangt wird und ich meine Arbeit mit den Kindern und ihren Eltern zu sehr liebe, um sie an den Nagel zu hängen, gehe ich wie folgt vor:
Ich lasse einen Felt Sense in mir aufsteigen, also ein ganzheitliches, körperlich spürbares inneres Gefühl, welche Zahl auf der Skala von 1 bis 6 sich für mich richtig anfühlt bezüglich einer bestimmten Leistung.
In dieses Gefühl fließen die erbrachte Leistung selbst mit ein, die Bewertungskriterien, die ich anlegen muss, das Kind, das die Leistungen erbracht hat, und seine Hintergrundgeschichte, meine Gefühle gegenüber diesem Kind, das Verhältnis zu der Leistung anderer Kinder und vor allem mein Gespür dafür, welche Note welche Reaktion bei dem Kind auslösen wird, welche Zensur es braucht, um sich positiv zu entwickeln.
In der Regel erspüre ich so eine Note, die sich für mich richtig anfühlt. Sehr häufig sind das gute Noten, manchmal spüre ich aber auch, dass es eine Fünf braucht, um eine Vorwärtsbewegung in Gang zu setzen.
Dabei bemühe ich mich so gut ich kann, im Kontakt zum inneren Erleben das Kindes zu bleiben und mit ihm darüber zu sprechen. Die Beziehungsebene und der Kontakt zum inneren Erleben müssen Vorrang haben vor allen Beurteilungen und Bewertungen, zu denen wir gezwungen werden, wenn wir Entwicklung fördern wollen! Wenn wir das nie vergessen, dann können auch wir Focusing-Leute Beurteilungen und Bewertungen abgeben.
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